Historie Vom Inspekteur des Armenhauses zum Lehrer der Reichen
Detlef Vonde über den Pädagogik-Pionier Johann Friedrich Wilberg.
Im 18. Jahrhundert war die Unterstützung der Armen in Stadt und Land exklusive Angelegenheit der Kirchen. Staat und Kommunen hielten sich weitgehend aus dieser „Kultur der Almosen“ heraus. Das änderte sich im Zuge der Frühindustrialisierung, als die Not in den nun unkontrolliert wachsenden Industriestädten mit den herkömmlichen Mitteln der Armenfürsorge nicht mehr zu mildern war. Innerhalb dreier Jahrzehnte verdoppelte sich etwa die Einwohnerzahl von Elberfeld (1810: ca. 19.000, 1840: ca. 40 000), das diesen gewaltigen Zuwachs vor allem der Migration verdankte: Ein in Mitteleuropa ungewöhnlich rasanter Wachstumsprozess mit Zuwanderung von Arbeitssuchenden vor allem aus dem oberbergischen, dem westfälischen und dem nordhessischen Raum.
Migrationsprozesse aus wirtschaftlichen Motiven waren historisch stets die Regel, nicht die Ausnahme. Auch in dieser frühindustriellen Boomtown gab es seit 1802 ein Armenhaus in städtischer Regie, das zugleich mit einer Schule verbunden war. Zum „Inspekteur“ dieser Einrichtung wurde ein ehemaliger Schneidergeselle und später im ganzen Land bekannter Pädagoge ernannt, Johann Friedrich Wilberg. 1766 in Ziesar bei Potsdam geboren und früh von Eberhard von Rochow entdeckt, einem aufgeklärten Gutsbesitzer und Schulreformer im Brandenburgischen. Aus dessen Feder stammte der legendäre „Kinderfreund“, das erste deutsche Schullesebuch überhaupt.
Und dieser Wilberg, der in Elberfeld die Armenschule leitete, fand bald auch die Aufmerksamkeit der wohlhabenden bürgerlichen Gesellschaft in der aufstrebenden Industriestadt. Man attestierte ihm offenbar ein besonderes Geschick und Talent für pädagogische Zukunftsfragen. Die reiche Kaufmannschaft fand ihre Belange nämlich nicht mehr in der lokalen Lateinschule repräsentiert, die überdies nur ein kümmerliches Schattendasein fristete. Eine Frage der Inhalte und der Qualität. Und die sollte von der neuen „Privat-Lehranstalt für die Kinder aus den höheren Ständen“ anders beantwortet werden.
Dort sah der künftige Lehrplan kaufmännisches Rechnen statt Latein oder Griechisch vor. Die „Anstalt“ wurde zum Lernort für das „wirkliche Leben“, der sogenannten „Realien“, und Wilberg war ihr erwählter Leiter. Diese neue Schule war aber nicht nur modern, sie war auch teuer und wandte sich damit exklusiv an den Nachwuchs der „besseren Gesellschaft“ in der Stadt. Bildung war Standesprivileg und trennte die Bourgeoisie vom „gemeinen Volk“. Johann Friedrich Wilberg, der Pionier einer aufgeklärten Pädagogik, avancierte damit vom Inspekteur des lokalen Armenhauses zum Lehrer der Reichen.
Und so ragte er aus einem Berufsstand heraus, der im frühen 19. Jahrhundert ein reichlich kümmerliches Sozialprestige genoss. Beide, die Schule und ihr Direktor, verdienten sich schon bald aufgrund ihrer fortschrittlichen Lehrmethoden einen offenbar vorzüglichen Ruf weit über die Stadtgrenzen hinaus. Das „Institut“ wurde nicht selten als „Vorzeigeeinrichtung“ in Sachen Unterrichtsmethodik und Didaktik gehandelt.
Und die Realität? Aufschlussreich, welche Erfahrungen der Langenberger Unternehmersohn Eduard Colsmann in seinen Briefen festhielt. Entgegen der Theorie Wilbergs könne dort – so Colsmann – von Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung der Schüler im Unterricht überhaupt keine Rede sein. Vielmehr handele es sich in der Realität des Alltags um das hinreichend bekannte System aus erzwungener Disziplin und Strafe, das wenig auf Kreativität oder gar schöpferische Erholung der Schüler setze, sondern – wie andernorts im Schulalltag üblich – den Rohrstock favorisiere.