Kolumne Freies Netzwerk Kultur Werden wir uns wiedersehen?

Wuppertal · Auch die Kunst sitzt im Kaninchenloch.

Max Christian Graeff.

Foto: C. Paravicini

Als ich beim Rundblick über den erstmals wieder leicht verschneiten Garten ein tiefes, armdickes Loch im Hügelbeet entdeckte, lief im Radio gerade ein Hit des Wiener Sängers Voodoo Jürgens, „Heite grob ma Tote aus“. Manchmal passen die Dinge so gut zusammen, dass man sich fragt, wer da daran herumdreht … Doch halt, nein, dem Zufall seine Chance: Es war nur das Werk des garstigen grauen Katers von nebenan.

Dem spontanen Verlangen, kopfüber in jenes Loch zu springen, um herauszufinden, ob es nicht noch eine andere Wirklichkeit gibt, konnte ich diesmal widerstehen. Dort unten, „down the rabbit hole“, findet sich seit Lewis Carrols Kinderbuch „Alice im Wunderland“ von 1865 ein regelloses, abenteuerliches Fantasiereich und ein gerade heute wieder besonders wirksamer Beleg für die Kraft der Literatur. Diese von uns allen mit so angenehmen wie auch erschreckendsten Turbulenzen zu füllende Gegenwelt steht nämlich jedem offen – den Künstlerinnen und Künstler für Utopien und Dystopien, den an allerlei weltlichen Phänomenen Zweifelnden und auch den modisch Verschwörungsgläubigen mit krudesten Tüdeltheorien jeglicher Façon. Einige schaffen es nie mehr aus diesem Kaninchenloch heraus. Ach je – und das alles ausgerechnet unter meinem friedlich verblühten Staudenbeet?

Der Großteil der kulturell Tätigen in meinem persönlichen Beziehungsgeflecht vibrierte einst in einer in Details unterschiedlichen, insgesamt jedoch verständigen Grundstimmung gegen die Zerstörung des menschlichen Zusammenlebens und der Natur, gegen Kriege und Ungerechtigkeiten, gegen Rassismus und Faschismus. Es gab kaum Ausnahmen; unversöhnliche Diskussionen waren eher selten. In und nach unseren Jobs auf Bühnen jeder Art feierten wir meist wertschätzend zusammen und mit dem Publikum.

Seit zwei Jahren ist diese Landschaft verändert. Das gemeinsame Arbeiten wurde teils empfindlich lange unterbrochen; berufliche und private Sympathien setzten aus und das Sprechen über Möglichkeiten des Menschlichen wurde zunehmend von egozentrischen Positionen rund um die pandemische Erschütterung überdeckt. Viele Künstler und Künstlerinnen offenbarten ihr wirkliches Denken – was natürlich gegenseitig, also auch mich selbst betreffend gilt. In den sozialen Netzwerken formierten sich die „Bubbles“; einige Facebook-Kulturfreunde warf ich kurzerhand vom Bildschirm, um ihre Verzweiflungsäußerungen nicht täglich überdenken zu wollen.

Aber der Cyberspace ist nicht die Lebensbühne, sondern ein Industrieprodukt. Auf den wirklichen Brettern, die die Welt bedeuten, würde ich diesen Kolleginnen und Kollegen allzu gerne wieder begegnen, obwohl ich bereits weiß, dass einige mir nicht verzeihen werden: die dankbare frühe Impfung so wenig wie den Glauben an Demokratie und Solidarität, den Gehorsam gegenüber selbst unreifen Maßnahmen und den Unglauben an das Heiligtum angeblicher persönlichster Freiheit. Wie gerne hörte ich uns sagen: Schluss damit, lass uns auf die Bühne gehen und Sinnvolles tun.

Der Kulturbetrieb scheint in der Not – auch hier in dieser Kolumne – so oft einig zu sein, doch Verbandskreise sprechen von bis zu einem Drittel Realitäts- und Maßnahmengegnern unter den Kunstschaffenden. Ein momentan noch kaum sichtbares Zerwürfnis. Werden wir uns wiedersehen, in einer beruflichen Kultur der Versöhnung, und was haben wir dafür zu tun? Haben wir zusammen nicht eigentlich andere Aufgaben angesichts der nicht nur am Virus zerbrechenden Welt? Viele Fragen für die kommenden Wochen … Ich geh jetzt mal raus, ein Loch zuschaufeln, in der Hoffnung, es hockt niemand drin.

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