Was wurde ihnen denn
damals zugestanden?
Interview Wie mit der Genfer Erklärung 1924 ein Meilenstein gesetzt wurde
Wuppertal · Uni-Professor Fabian Kessl über die Leitlinie, die in den 20er-Jahren erstmals Kinderrechte anerkannte.
Im Jahre 1900 rief die schwedische Reformpädagogin Ellen Key das Jahrhundert des Kindes aus. Fortan setzten sich viele Pädagoginnen und Pädagogen für Kinderrechte ein. Am 26. September 1924 erkannte die Genfer Erklärung dann erstmals die Rechte der Kinder an.
Fabian Kessl: Die Genfer Erklärung wird immer wieder als der Beginn der Geschichte von Kinderrechten genannt. Festgelegt wurde 1924 vor allem der Schutz von Kindern, insofern dass Kindern eine bestimmte Ausstattung ihres Lebens gewährleistet werden sollte. Konkret hieß es damals: Kindern soll „in materieller und geistiger Hinsicht“ eine „natürliche Entwicklung“ ermöglicht werden. Aber auch Notlagen seien zu verhindern: so der Hunger, dem Kinder ausgesetzt sein können. Damit wurde in der Genfer Erklärung anerkannt, dass „Kind sein“ etwas bedeutet, was nicht bedingungslos ist. Die Gesellschaft muss vielmehr Kindheit ermöglichen. Darin kamen die beteiligten Staaten im Völkerbund 1924 überein. So wichtig die Genfer Erklärung, die sich nun zum 100. Mal jährt, für die Geschichte der Kinderrechte war, sie war auch nicht ohne eine Vorgeschichte. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurden erste internationale Abkommen geschlossen, zum Beispiel zur Bekämpfung des Mädchenhandels oder zur Vormundschaft.
Die Genfer Erklärung zu den Rechten der Kinder beinhaltete aber ein entschiedenes Manko. Sie besaß keinerlei rechtliche Grundlage. Warum nicht?
Kessl: Das hat zum einen völkerrechtliche Gründe, denn die Genfer Erklärung ist, wie der Name schon sagt, eine Erklärung und kein menschenrechtlicher Vertrag. Den haben wir in Bezug auf die Kinderrechte erst seit 1989, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen die UN Kinderrechtskonvention verabschiedet. Eine Erklärung, wie die von 1924, muss aber nicht ratifiziert und umgesetzt werden, insofern hat sie eher moralische Kraft. Diese und die Symbolik einer internationalen Erklärung darf man aber auch nicht unterschätzen. Im Nachhinein kann man feststellen: 1924 wurde tatsächlich ein Meilenstein gesetzt, der dann, wenn auch erst fast ein Jahrhundert später, dazu führte, dass Kinderrechte tatsächlich international fixiert wurden. Dazu hat es die Genfer Erklärung gebraucht. Man kann zwar sagen, diese blieb rechtlich noch schwach, aber immerhin haben damals 50 Staaten diese Erklärung bereits unterzeichnet, und damit die Relevanz des Themas Kinderrechte betont. Das war schon historisch.
1945 wurde die UN gegründet. Mit ihr erlosch die Genfer Erklärung und erst 1959 verabschiedete die UN-Generalversammlung wieder eine Erklärung der Rechte des Kindes, die jedoch wieder ohne rechtliche Bindung blieb. Wie kann man das erklären?
Kessl: Nach der Erfahrung des deutschen und europäischen Faschismus waren völkerrechtlich erst einmal andere Themen auf der Agenda. Zugleich muss man daran erinnern, dass Kinderrechte nicht nur auf der internationalen Ebene betrachtet werden können. Zwar haben wir im deutschen Fall bis heute explizite Kinderrechte nicht im Grundgesetz verankert, doch zugleich gibt es ebenfalls seit 1924 rechtliche Verpflichtungen zum Schutz des Kindeswohls und zur Ermöglichung von Bildung und Erziehung auf nationalstaatlicher Ebene. Diese Parallelität sollte nicht aus dem Blick geraten. 1924 wurde schließlich nicht nur international die Genfer Erklärung verabschiedet, sondern in der Weimarer Republik auch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz in Kraft gesetzt. Damit wurde nicht nur der Schutz des Kindeswohls rechtlich verpflichtend, sondern auch erstmals die Infrastruktur einer öffentlichen Jugendhilfe aufgebaut: Auf kommunaler Ebene waren nun Jugendämter einzurichten, die staatlicherseits das Aufwachsen von Kindern unterstützen und kontrollieren sollten. Wir haben es also historisch mit parallelen internationalen und nationalstaatlichen Prozessen zu tun.
1989 verabschiedete die Generalversammlung der UN die Kinderrechtskonvention (KRK). Sie ist heute das wichtigste internationale Menschenrechtsinstrumentarium für Kinder. Woran kann man das erkennen?
Kessl: Das kann man vor allem daran erkennen, dass jetzt Rechte für Kinder umfassend in der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) festgehalten werden. Weiterhin spielt der Schutz des Kindes eine zentrale Rolle, allerdings jetzt auch in einer differenzierten Art und Weise, als Schutz vor Diskriminierung, als Schutz vor Gewalt – und eben auch als Schutz vor Gewalt im privaten Kontext. Das ist aber nur ein Themenkomplex der UN-KRK. Ein entscheidender weiterer Komplex ist der, dass die UN-KRK festlegt, dass förderliche Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern bereitzustellen sind. So soll zum Beispiel der Zugang zu einer Infrastruktur ermöglicht werden, übrigens auch zu Medien, der Zugang zu Bildungseinrichtungen gewährleistet werden und auch diskriminierungsfrei sein. Nicht zuletzt findet sich ein Themenkomplex, mit dem Freiheitsrechte, also das Recht auf Meinung, Versammlung und Religionsfreiheit, nun auch Kindern zugestanden werden. In der Gesamtheit all dieser Rechte, wie sie hier als Kinderrechte übersetzt und konkretisiert werden, liegt die Kraft und Innovation der Kinderrechtskonvention von 1989.