Der Stoff, der Tote mumifiziert „Bakterien und Pilze müssen abgetötet werden“

Wuppertal · Professor Thorsten Benter über die besterhaltene Mumie der Welt und den Stoff Formaldehyd.

Prof. Dr. Thorsten Benter kennst sich mit Folmadehyd aus – auch abseits von Mumien.

Foto: Sebastian Jarych/S.Jarych

Am 6. Dezember 1920 starb Rosalia Lombardo im Alter von zwei Jahren an der Spanischen Grippe. Heute liegt sie – mumifiziert – in den Katakomben von Palermo. Im Interview spricht Prof. Dr. Thorsten Benter, Leiter der Arbeitsgruppe Physikalische und Theoretische Chemie an der Bergischen Universität Wuppertal, über „die schönste Mumie der Welt“ und das Rätsel um Formaldehyd.

Mumien faszinieren seit jeher die Menschen. Meist denkt man an die ägyptischen Pharaonen. Die besterhaltene ist die eines kleinen Mädchens: Rosalia Lombardo. Der Einbalsamierer, Alfredo Salafia, der das Mädchen für die Ewigkeit vorbereitete, gab die Rezeptur dafür zu Lebzeiten nicht bekannt. In dessen Nachlass fand Dario Piombino Mascali ein Manuskript, in dem Salafia den Gebrauch von Formaldehyd beschrieb. Um welchen Stoff handelt es sich?

Thorsten Benter: Formaldehyd ist eine chemische Verbindung, die aus zwei Atomen Wasserstoff und jeweils einem Atom Kohlenstoff und Sauerstoff besteht und in der „Summenschreibweise“ als H2CO angeschrieben wird. Formaldehyd ist bei Raumtemperatur und Normaldruck eine farblose, gasförmige Substanz. Der Siedepunkt liegt bei etwa ‑20 °C, der Schmelzpunkt bei -117 °C. Leitet man den gasförmigen Formaldehyd in Wasser ein, so kommt man zu einer wässrigen Lösung, die Formalin genannt wird. Formalin wird im Handel von verschiedenen Herstellern angeboten. Diese Lösungen dienen fast immer zur Sterilisation, zur Fixierung von Geweben und Zellen und das gibt schon einen deutlichen Hinweis auf seine Wirkungsweise im menschlichen Körper.

Was bewirkt Formaldehyd im menschlichen Körper?

Benter: Ziel der Bemühungen bei der Konservierung ist es, den Körper möglichst lange unversehrt zu erhalten. Die Frage ist dann eigentlich: Welche Prozesse führen dazu, dass ein toter Organismus „zerfällt“, also seine biologische Integrität verliert? Zersetzung jeglicher Art bedeutet in diesem Zusammenhang das Aufspalten großer Moleküle in immer kleinere. Angetrieben wird die Zersetzung durch Enzyme, die von den immer anwesenden Bakterien und Pilzen abgegeben werden. Die enzymatische Zersetzung verläuft spontan und freiwillig, das heißt unter Energieabgabe. Auch die im Körper des verstorbenen Organismus befindlichen und weiterhin aktiven Enzyme können die Zersetzung vorantreiben. Mit diesen Erkenntnissen haben wir auch den Schlüssel zur Konservierung gefunden: Bakterien und Pilze müssen abgetötet werden. Die großen, unzersetzten organischen Moleküle des toten Organismus wie Eiweiße sollen vor dem Angriff durch Enzyme geschützt werden. Eine über oder in den verstorbenen Organismus eingeführte Formalinlösung wirkt nahezu überall und unselektiv. Das liegt vor allem daran, dass Formaldehyd ein kleines Molekül ist, das in nahezu alle Bereiche des Organismus vordringen kann und mit seiner ausgeprägten molekularen Funktionalität eben auch viele molekulare Angriffspunkte findet. Mit anderen Worten: Auf der einen Seite wirkt Formaldehyd toxisch gegenüber Bakterien und Pilzen, auf der anderen Seite modifiziert er molekulare Strukturen in allen Organen, im ganzen Körper so, dass ein enzymatischer Angriff kaum oder gar nicht mehr möglich ist. 

Formaldehyd gilt als wichtiger industrieller Rohstoff im Lebensmittel- und Arzneibereich. Wozu benutzt man Formaldehyd heute?

Benter: Formaldehyd ist eine unverzichtbare „Grundchemikalie“. Es werden weltweit tatsächlich über 40 Millionen Tonnen Formaldehyd produziert, etwa die Hälfte davon in China. Dem Chemielehrbuch kann man entnehmen, dass Formaldehyd einer der wichtigsten organischen Grundstoffe in der chemischen Industrie ist. Er dient als Ausgangsstoff für zahlreiche chemische Verbindungen. Der größte Marktanteil liegt im Bereich der Harnstoff-Formaldehyd-Harze, der Phenoplaste, der Polyoximethylene und einer Reihe von chemischen Zwischenprodukten, wie etwa Pentaerythrit. Pentaerythrit wird ebenfalls zur Herstellung von Harzen sowie Weichmachern und Emulgatoren verwendet und zur Herstellung von Sprengstoffen.

Trotzdem gilt Formaldehyd als krebserregend. Welche gesundheitlichen Schäden gehen von diesem Stoff aus?

Benter: Formaldehyd ist gesundheitsschädlich, oder prägnanter formuliert, sehr giftig. Daher findet man auch Gefahrenhinweise auf den Behältern, in denen Formaldehyd gelagert wird. Und so gibt es eine ganze Reihe von Regeln und Maßnahmen im Umgang mit Formaldehyd. Vor allem die in 2015 durch die EU rechtsverbindliche Einstufung von Formaldehyd in die Kategorie „Wahrscheinlich karzinogen beim Menschen“ schreibt vor, dass die Belastung immer so gering wie möglich zu halten ist.

Formaldehyd befindet sich auch in der Atmosphäre. Ihr Team hat dazu sogar Messungen vorgenommen. Was können Sie mit diesen Messungen herausfinden?

Benter: Hier muss man zwischen Messungen in der Außenluft und im Innenraum unterscheiden. Innenraumluftmessungen liefern im Ergebnis eine Bestandsaufnahme der Luftqualität. Darüber hinaus können solche Messungen dazu dienen, offensichtliche oder verborgene Quellen von Formaldehydemissionen in Innenräumen aufzuspüren. In die Raumluft abgegebener Formaldehyd wird in der Gasphase kaum abgebaut und kann dadurch akkumulieren. Ganz anders hingegen ist die Situation in der Außenluft, vor allem in der Gegenwart von Sonnenlicht. Die atmosphärische Lebensdauer von Formaldehyd beträgt in diesem Fall nur maximal einige Stunden. Viel entscheidender aber ist die Entfernung durch chemische Reaktion, das heißt durch die Transformation in eine andere Substanz. Die unterschiedlichen Zeitskalen, auf denen diese Reaktionen ablaufen, sind von großer Bedeutung für das Verständnis der Chemie der Atmosphäre. Konzentrationsmessungen etwa von Formaldehyd geben daher eine Momentaufnahme über den derzeitigen Zustand und lassen Rückschlüsse und Projektionen zu. Neben diesen Messungen „im Feld“ gehören dazu umfangreiche Laborexperimente sowie umfangreiche Modellierungen, um so ein immer besseres Verständnis für die Chemie der Atmosphäre zu gewinnen.