Frau Neuland, wenn Jugendliche sich auf dem Schulhof zur Begrüßung erst einmal beschimpfen, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es einen „Verfall“ der Umgangsformen gibt. Ist das der Fall?
Interview Wuppertaler Professorin zu Umgangsformen bei Jugendlichen: „Einen Verfall der Höflichkeit gibt es nicht“
Wuppertal · Professorin Eva Neuland forschte zum Verhalten von Jugendlichen an mehreren Schulen.
Eva Neuland: Wir sehen das im Grunde als ein altes Vorurteil, das sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zeigt. Und zwar auch in der Verbindung Sprach- und Sittenverfall. Das wiederholt sich von Generation zu Generation und hängt damit zusammen, dass sich Kultur und Umgangsformen wandeln. Das verunsichert Erwachsene.
Wie verändern sich denn ganz aktuell unsere Umgangsformen?
Neuland: Wir sehen, dass es eine Entwicklung hin zu mehr Informalität gibt. Es wird im Umgang mehr soziale Nähe signalisiert.
Woran zeigt sich ein Wandel der Höflichkeit?
Neuland: Ich würde das gerne an der Form der Begrüßung verdeutlichen. Früher, in der Generation meiner Eltern und Großeltern, zogen die Herren den Hut. Heute tragen aber gar nicht mehr alle Männer automatisch einen Hut. Und Jugendliche würden nicht auf die Idee kommen, die Kappe vor jemandem zu ziehen.
Haben Sie noch ein Beispiel aus neuerer Zeit?
Neuland: Unsere Eltern und Großeltern haben noch Briefe begonnen mit „Sehr geehrte(r)...“ oder „Gnädiger Herr“ und am Ende stand „Achtungsvoll“ oder „Hochachtungsvoll“. Auch das ist heute praktisch passé. Heute beginnt man Briefe, selbst bei Personen, die einem nicht so vertraut sind, mit „Lieber...“. Das nimmt selbst in offiziellen Geschäftskorrespondenzen zu.
Sorgt so ein Wandel nicht immer auch für Irritationen?
Neuland: Bei Studierenden, die mir nicht bekannt sind, erlebe ich es häufiger, dass sie Schreiben an mich mit „Lieben Grüßen“ abschließen. Ich persönlich empfinde das als unpassend. Aber für die jungen Leute ist das selbstverständlich.
Höflichkeit hat also andere Formen angenommen. Welche Erkenntnisse haben da Ihre Forschungen mit Jugendlichen an Schulen gebracht?
Neuland: Höflichkeit ist für die jungen Leute nicht mehr wie früher etwas Vorgeschriebenes, dem man folgen muss. Jugendliche fordern stattdessen „Respekt“ ein. Auch von den Lehrkräften. Zitat: „Wenn der Lehrer zu mir höflich ist, bin ich das auch.“ Das kann natürlich zu Konflikten zwischen den Generationen führen.
Also statt formaler Höflichkeit gilt für junge Leute mehr der gegenseitige Respekt?
Neuland: Ja, die Jugendlichen kennen aber sehr wohl noch Höflichkeitsformeln wie „Bitte“ und „Danke“. Sie wissen aber, das haben wir bei unseren Fragebögen-Befragungen festgestellt, beispielsweise nicht mehr, was „Etikette“ bedeutet. Da fragten einige, ob das das ist, was an der Kleidung hängt.
Sind vermeintliche Unhöflichkeiten bei Jugendlichen manchmal gar nicht so gemeint?
Neuland: Wenn Jugendliche unter sich sind, haben sie einen anderen Höflichkeits-Stil. Sie halten es dann durchaus für höflich, sich mit „Hey“ anzureden. Wir haben beobachtet, dass das so weit geht, dass Jugendliche sich auf dem Schulhof begrüßen mit „Hey, ihr Missgeburten“ und niemand protestiert. Da sagen dann die Lehrkräfte aus ihrer Sicht: Der Ton der Jugend ist beleidigender geworden. Dabei widerlegen das unsere Daten.
Weil sich in dem Kontext niemand beleidigt fühlt.
Neuland: In unseren Fragebögen schrieben die Jugendlichen oft, dass sie etwas „im Scherz“ sagen. Das wird dann so erklärt, dass sie so nur mit Menschen reden, die den Spaß auch verstehen.
Das sind dann auch auf eine andere Art Umgangsformen?
Neuland: Ja, die Jugendlichen verhalten sich nach unseren Beobachtungen in der Kommunikation sehr kooperativ. Und sie vermeiden sogar direkte Formen von Kritik.
Viele Menschen empfinden die Nutzung von Smartphones in bestimmten Lebenssituationen als unhöflich. Wie verändert das Telefon unsere Umgangsformen?
Neuland: Neue Technologien werden immer erst als Kulturbruch empfunden. Ich muss aber sagen, dass sich in diesem Punkt die Erwachsenen auch an die eigene Nase fassen sollen. Wie oft sieht man auch Erwachsene, die mit dem Handy am Tisch sitzen oder laut im Zug telefonieren.