Interview Ein Hilferuf aus der Klinik

WUPPERTAL · Ein Oberarzt aus NRW spricht über die Überlastung des medizinischen Personals und die Auswirkungen auf Patienten und Gesellschaft. Ein Interview.

Ein Ärzteteam bei einer Operation. Die Rahmenbedingungen sind oft schwierig. 

Foto: dpa/Sven Hoppe

 Sie sind ernsthaft verletzt und kommen in ein Krankenhaus. Als Sie den jungen und offensichtlich unerfahrenen Mitarbeiter sehen, der Sie versorgen soll, kommt Ihnen ein Gedanke in den Sinn: Wer hat wohl mehr Angst: Ich als Patient vor dem, was da auf mich zukommt? Oder der junge Mediziner davor, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen?

Dieser Gedanke kommt Roman Rauth in den Sinn, wenn er über die sich immer weiter verschlechternden Bedingungen in seinem Beruf spricht. Rauth ist Oberarzt an einer Klinik in Ostwestfalen im Bereich Anästhesie, Intensivmedizin und Notfallmedizin. Während und vor der Coronapandemie hat er auf der Intensivstation gearbeitet. Aber schon vor dieser Zeit, in der jedermann die Knappheit medizinischer Ressourcen deutlich vor Augen geführt wurden, habe es bedenkliche Arbeitsumstände an deutschen Krankenhäusern gegeben, sagt er. Ein Gespräch mit dem Arzt:

Herr Rauth, Sie kritisieren die Probleme, die durch Spezialisierung der Fachrichtungen in den Krankenhäusern verschärft wurden. Was meinen Sie damit?

Roman Rauth: Neue Therapien und technische Verbesserungen werden fast quartalsweise eingeführt, jedoch die Belastung auf den einzelnen Mitarbeiter dabei außer Acht gelassen. In den letzten Jahren kam es zu einer deutlichen Veränderung der Arbeit in den Kliniken - von der zielgerichteten effizienten umfassenden Versorgung hin zu einer fließbandartigen Fabrikarbeit.

Das medizinische Personal ist überlastet?

Roman Rauth

Foto: WZ/Schröder, Ellen

Rauth: Der einzelne Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitswesen steht vor einem großen physiologischen als auch psychologischen Dilemma. Schon vor der Pandemie, das zeigt ein Bericht der Ärztezeitung aus dem Jahr 2019, klagten 53 Prozent der befragten Klinikärzte über zunehmende Frustration. Grund dafür war sowohl der Zwiespalt zwischen Arbeitgeberbedingungen und Patientenversorgung als auch ethischen Ansprüchen. Laut einer amerikanischen Studie während der Pandemie geht dies von Suizidgedanken bis hin zum Suizidversuch. Die Probleme sind nicht allein durch die Pandemie entstanden, wurden allerdings dadurch massiv verstärkt. Vorgelebte Verhaltensweisen zeigen, dass Resilienz wichtiger ist als Fachkenntnis oder Empathie.

Sie meinen, dass diejenigen mit der größten Kraft, sich mit den Umständen zu arrangieren, mehr zählen als diejenigen, die sich mit medizinischem Können und Hingabe um die Patientinnen und Patienten kümmern. Das wirkt sich dann wohl auch auf die Qualität der Behandlung aus?

Rauth: Die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Zusätzlich zu  der aufwändigen Versorgung der Patienten haben sich die administrativen Tätigkeiten vermehrt. Aus- und Fortbildungen müssen in der Freizeit durchgeführt werden. Neue Mitarbeiter werden bestehenden Mitarbeitern zur Einarbeitung an die Hand gegeben, um „nebenbei“ die Arbeit auf der Intensivstation zu erlernen. Für Teambildungs-Maßnahmen, Feedback, Innovation oder Verbesserung besteht während der Arbeitszeit keine Möglichkeit, so dass dies in der Phase der Erholung (Freizeit) durchgeführt werden muss. Dieses Dilemma führt zu einem innerlichen Kampf zwischen dem humanitären und empathischen Gedanken auf der einen und der ökonomischen zielgerichteten Sichtweise auf der anderen Seite. In diesem Zwiespalt steigt zugleich die Frustration des Mitarbeiters und es leidet die Versorgung des Patienten.

Führt das nicht dazu, dass der medizinische Nachwuchs dann lieber erst gar nicht seine berufliche Zukunft im Klinikbereich sieht?

Rauth: So ist es! Bedingt durch ökonomische Optimierungszwänge ist nicht nur die Aufnahmezahl und Intensität der Versorgung gestiegen, sondern auch kompetentes Personal als größter Kostenfaktor eingespart worden. Statt qualifizierter Mitarbeiter, werden frisch examinierte Pflegekräfte und Ärzte in einem hochanspruchsvollen und sensiblen Bereich eingesetzt. Diese „neuen“ Mitarbeiter ihrerseits stehen vor einer äußerst belastenden Situation. Denn statt einer qualifizierten und zeitintensiven Fortbildung wird ihnen die Versorgung von Intensivpatienten nach einem zweiwöchigen Crashkurs Einarbeitung anvertraut. Viel zu schnell sollen sie dann aus Personalmangel reguläre Dienste übernehmen. Die Folge dieser akuten Überlastung ist eine mangelnde Versorgung einerseits und Überlastung des einzelnen Mitarbeiters andererseits. So ist es nicht verwunderlich, dass die Zahl derer, welche diesen „Sprung ins kalte Wasser“ ertragen und auf der Intensivstation mit Freude weiterarbeiten, gering ist. Auch birgt dies die Gefahr des Anstiegs von Fehlern während der Behandlung.

Gibt es auch länger gediente Kollegen, die den Weg nicht mehr mitgehen wollen?

Rauth: Ja, auch das gibt es, und leider immer öfter. Langjährige erfahrene Mitarbeiter kehren entweder ihrem Job den Rücken oder reduzieren ihre Wochenarbeitszeit, um einen Ausweg aus dieser Belastung zu suchen. Dadurch wird die Personaldecke zusätzlich ausgedünnt. Geflickt wird sie dann durch Personal anderer normaler Stationen oder Mitarbeiter, welche gerade erst ihr Examen bestanden haben.“

Die von Ihnen geschilderten Zustände sind bedrückend und belastend für das medizinische Personal. Und gleichermaßen riskant für Patientinnen und Patienten. Welche Folgen sehen Sie für die Zukunft?

Rauth: Ja, das bedrückt uns als Ärzte und Pfleger. Aber auch das wirtschaftliche Wohlergehen unserer Gesellschaft ist betroffen. Die Pandemie hat das doch deutlich gezeigt. Die gesundheitliche Versorgung unserer Bevölkerung ist eine Schlüsselposition in unserer Ökonomie. Das Gesundheitssystem macht immerhin ca. 12 Prozent unseres Bruttoinlandproduktes aus. Wenn wir wie bisher unsere Arbeitnehmer belasten und überlasten, wird ein Einbruch dieser Strukturen unabwendbar sein. Somit betreiben wir Raubbau an einem der wichtigsten infrastrukturellen Pfeiler unsere moderne Gesellschaft. Damit ist die Vitalität und Widerstandskraft unserer Wirtschaft massiv gefährdet. Denn ohne ein stabiles und strapazierfähiges Gesundheitssystem werden Arbeitnehmer nicht mehr versorgt und stehen so dem Arbeitsmarkt auch nicht mehr zur Verfügung.

Wenn Sie drei Wünsche hätten: Was müsste sich möglichst schnell und dringend ändern?

Rauth:  Zuerst einmal würde ich mir wünschen, dass die Situation der Mitarbeiter im Gesundheitswesen mehr in den öffentlichen Fokus rückt und dass für deren Zukunftsperspektive und -,Sicherheit gesorgt wird. Es muss zu einer Entkoppelung zwischen den ökonomischen Personalzwängen und der medizinischen Versorgung kommen. Darüber hinaus muss dem Recht auf Lernen wieder mehr Platz eingeräumt werden und neue Arbeitsabläufe und Methoden müssen eingeführt werden, welche eine „Wiederbevölkerung“ der Klinik mit Fachkräften bewirkt. Dafür möchte ich mich mit aller Kraft einsetzten, um ein stabiles und tragbares neues System zu bilden. Das Potenzial dafür ist da und das sollten wir auch unbedingt nutzen.