Frankfurter Schule Als Philosophen Stars waren
Berlin/Frankfurt/Main (dpa) - Theodor Adorno war einer der großen Theoretiker der 68er. Er war ein Star, aber kein unerreichbarer. Auf Wunsch erteilte er Rat in allen Lebenslagen.
„Sehr geehrter Herr Professor Adorno“, wandte sich 1968 ein Kunststudent an ihn, „bitte schreiben Sie mir Namen und Anschrift einer guten homosexuellen Zeitschrift, damit ich sie abonnieren könne.“ In seiner Antwort bestärkte Adorno den Hilfesuchenden darin, nicht „vorm Konformismus“ zu kapitulieren. Da er selbst aber „nicht die leisesten Neigungen nach dieser Richtung“ verspüre, könne er ihm beim besten Willen keine solche Zeitschrift empfehlen.
Derartige Anfragen erreichten Adorno aus allen Bevölkerungsschichten. Unvorstellbar, dass ein Wissenschaftler heute eine solche Bedeutung erlangen könnte. Zwar gibt es auch jetzt philosophische Bestseller-Autoren wie Richard David Precht („Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“), doch deren Kunst besteht darin, ein Thema möglichst anschaulich und unterhaltsam zu erklären. Sie selbst sind keine originären Denker.
Vor 50 Jahren war das anders. Die damaligen Erfolgsautoren waren hoch angesehene Wissenschaftler und machten bei der Vermittlung ihrer Ideen keine Kompromisse. Ihre Wälzer waren häufig in einem völlig verquasten Stil abgefasst. Gerade das galt als Ausweis von Qualität - auch für den Leser, der es geschafft hatte, sich da durchzuquälen. Die einflussreichsten Vordenker waren die Mitglieder der Frankfurter Schule: Max Horkheimer („Dialektik der Aufklärung“), Theodor W. Adorno („Minima Moralia“), Herbert Marcuse („Triebstruktur und Gesellschaft“) und Jürgen Habermas („Strukturwandel der Öffentlichkeit“). Dazu kamen die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich („Die Unfähigkeit zu trauern“).
Als zerfledderte Taschenbücher mit zahllosen Unterstreichungen im Text wurden diese Titel in der Jackentasche mitgeführt wie heute das Smartphone. Wer etwas auf sich hielt, trainierte sich den Soziologen-Jargon der großen Vorbilder an und durchsetzte seine Aussagen mit Fachbegriffen wie „Hermeneutik“, „Existenzphilosophie“ und „Dialektik“. „Theorie verhalf nicht nur zu akademischem Kapital, sondern auch zu Sexappeal bei den Kommilitonen“, schreibt Philipp Felsch in seinem Buch „Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960-1990“.
Die Sozialphilosophen begeisterten die Studenten vor allem deshalb, weil sie in ihren Büchern eine radikale Gesellschaftskritik lieferten. Als die Studenten dann aber ernst machten und tatsächlich auf die Barrikaden gingen, reagierten die Professoren bestürzt. Adorno sprach von einer „Walpurgisnacht der Studenten“ und sorgte sich: „Bis jetzt ist es hier ohne physische Gewalttätigkeiten abgegangen, aber bei der Eskalation ist mit allem zu rechnen.“ Als das Institut für Sozialforschung 1969 von Studenten besetzt wurde, ließ er es sogar von der Polizei räumen.
Im selben Jahr wurde er zur Zielscheibe einer „Oben ohne“-Attacke: Drei Studentinnen stürmten während seiner Vorlesung „Einführung in dialektisches Denken“ nach vorn, entblößten ihre Brüste und versuchten, ihn zu küssen. Der Vorfall ging als „Busen-Attentat“ in die Geschichte ein und wurde später sogar für Adornos frühen Tod nach einem Herzinfarkt mitverantwortlich gemacht. Fakt ist, dass er sich sehr über die Aktion geärgert hatte. Schließlich, so sagte er, habe er nie zu jener Sorte von Spießern gehört, die im Angesicht eines nackten Busens „Hihi“ machen würden. Dass die Aktion auch ein Angriff auf die damalige Männerherrschaft gewesen sei, habe leider niemand kapiert, sagte der Sozialphilosoph Oskar Negt, damals Assistent von Habermas, rückblickend in einem SZ-Interview: „Gendersensibilität stand leider nicht im Vordergrund unserer politischen Vorstellungen.“
Das Tischtuch zwischen Theoretikern und Aktivisten war seitdem zerschnitten. Persönlich war ein Mensch wie Adorno sowieso der Gegenpol zu einem Protestler wie Rudi Dutschke. Er entstammte einem großbürgerlichen Milieu der Kaiserzeit, war ein hervorragender Pianist und verwöhnter Gourmet. In seiner Freizeit besuchte „Nilpferd“ - so sein Spitzname seit Kindertagen - nicht etwa politische Veranstaltungen, sondern den Frankfurter Zoo.
1965 wandte sich der Tierfreund sogar direkt an den aus dem Fernsehen bekannten Zoodirektor Bernhard Grzimek: „Wäre es nicht schön, wenn der Frankfurter Zoo ein Wombat-Pärchen erwerben könnte?“, fragte er an. „Ich kann mich an diese freundlichen und rundlichen Tiere mit viel Identifikation aus meiner Kindheit erinnern und wäre sehr froh, wenn ich sie wiedersehen dürfte.“