Archiveinsturz: „Wie am 11. September“
Köln (dpa) - Es ist kurz nach 14.00 Uhr, als die Mitarbeiter und Besucher des Historischen Archivs von Köln plötzlich aufgefordert werden, das Gebäude sofort zu verlassen. Ein seltsames Knarzen in den Wänden hat sie misstrauisch gemacht.
Augenblicke später bricht der vierstöckige Komplex mit Donnergetöse zusammen. Ganze Straßenzüge werden in dunklen Staub gehüllt. Als sich der erste Nebel verzieht, befinden sich an der Stelle des bunkerartigen Archivgebäudes ein riesiger Schuttberg - und ein schwarzes Loch.
„Wie am 11. September“, entfährt es der Kioskbesitzerin Paraskevi Oustampasiadi (42), die alles aus nächster Nähe miterlebt hat. Ihr erster Gedanke: „Nichts wie weg hier.“ Augenzeugen fühlen sich an ein Erdbeben erinnert. Der Rentner Peter Steinkamp (65), der gerade auf das Gebäude zugeht, sieht eine „riesige Rauchwolke“ aufsteigen. Ein anderer Passant erzählt: „Hinter mir ist plötzlich alles zusammengebrochen, und dann kam diese riesige Staubwolke hinter mir her.“ Der Anwohner Jürgen Ariza y del Pino sieht auf seinem Tisch die Gläser wackeln. „Das ist alles schrecklich“, sagt er. „Meine Mutter ist in der Severinstraße groß geworden.“
Die Severinstraße - viel besungen, viel beschrieben. Sie ist die Heimat von Wolfgang Niedecken, hier ging Heinrich Böll ins Café. Vor einer guten Woche kam hier noch der Rosenmontagszug vorbei. Und jetzt auf 70 Metern Länge nur noch Schutt.
Neun Menschen werden am Abend vermisst. Die meisten anderen haben sich zum Glück in Sicherheit bringen können. Susanne van den Bergh zum Beispiel hatte an diesem Tag in dem Archiv in Ratsprotokollen gestöbert. Dann war sie kurz rausgegangen, um einen Kaffee zu trinken. Als sie zurückwollte, ließen Bauarbeiter sie nicht mehr hinein.
Seit Jahren wird unter der Severinstraße eine U-Bahn-Strecke gebaut - es ist die umstrittene Nord-Süd-Bahn, die dort entsteht. Und das hat die Erde schon so manches Mal erzittern lassen. Vor einiger Zeit stand plötzlich ein Kirchturm schief - damals konnten die Kölner die Sache noch mit Humor nehmen und sprachen vom „schiefen Turm von Köln“.
Doch die jahrelangen Bauarbeiten und Straßensperrungen haben längst zu Verbitterung geführt: Viele Einzelhändler haben schwere Umsatzeinbußen erlitten, manche gingen pleite. Minuten nach dem Einsturz stand in einem Internetforum schon der Kommentar: „Das kommt davon, wenn man ein ganzes Viertel untergräbt.“
In den Trümmern suchen Hunde nach Vermissten. Die Polizei ist mit zwei Hundertschaften im Einsatz. Natürlich geht es zunächst nur um die Frage: Sind Menschen zu Tode oder zu Schaden gekommen? Aber am Abend weisen Wissenschaftler auch auf etwas anderes hin: Unter den Trümmern an der Severinstraße liegen 2000 Jahre Kölner Geschichte begraben - das Gedächtnis der Stadt. Sogar den Krieg hatten diese Schätze überstanden. Aber möglicherweise nicht den Bau der neuen U- Bahn.