Aus der Psychiatrie in die Bank
Engagement: Der Finanzmanager Jonathan Naess widerlegt die Vorurteile gegen psychisch Kranke und hilft nun anderen.
London. Auf der Skala der Büro-Desaster passierte dem Londoner Finanzmanager Jonathan Naess das Allerschlimmste: Weil er in der Mittagspause ausfallend geworden war, kam er im Nadelstreifenanzug direkt aus der Konzernzentrale in die Psychiatrie. "Manisch-depressiv" lautete die Diagnose. Und wäre der 40-Jährige nicht so hartnäckig, hätte er sich wohl mit dem Satz zufrieden gegeben, den die meisten Betroffenen vom Psychiater hören: "Seien Sie realistisch - mit dieser Krankheit können Sie nicht mehr arbeiten."
"Nirgendwo werden psychisch Kranke so diskriminiert wie im Job", sagt der studierte Wirtschaftswissenschaftler. Viele verstecken Persönlichkeits- und Essstörungen, Depressionen oder Schizophrenie vor Kollegen, weil sie wissen, dass es sie Vertrauen, Respekt und schließlich den Arbeitsplatz kosten könnte. Sein "Coming Out" sei wichtig für sie, weil es Chefs zeige, dass eine psychische Erkrankung den Mitarbeiter nicht inkompetent und unfähig macht.
"Ich habe vor und nach meiner Büro-Episode Hunderttausende für den Konzern verdient", betont der Banker. "Und ich bin nicht allein: Anwälte, Ärzte, Manager und Richter gehören mittlerweile zu ,Stand to Reason’". Ihr öffentliches Bekenntnis soll auch anderen Arbeitnehmern Mut zum befreienden Outing machen. Die Lobby der kranken Alphatiere hat jedoch nicht nur der Diskriminierung den Kampf angesagt: "Stand to Reason" will sich als Anti-Stigma-Organisation durch Seminare für Personalchefs finanzieren.
"Man muss kein Psychiater sein, um zu erkennen, dass es Mitarbeitern schlecht geht", sagt Naess. "Doch viele Personalchefs denken, dass psychisch Kranke schwierige Kollegen sind, die auf keinen Fall mehr Kundenkontakt haben dürfen. Und er rechnet vor: "Eine Firma kann es sich nicht aussuchen, ob sie gesunde Mitarbeiter hat oder nicht. Einer von sechs Mitarbeitern leidet an einer gängigen Persönlichkeitsstörung. Die Frage muss daher lauten: Wie gehen wir mit dem bestehenden Problem um?"
Bei einer Kündigung fällt nicht nur der Betroffene in eine "zweite Depression". Das Unternehmen verliert auch Können, Kontakte und Investitionen mit dem geschassten Kranken. Dass der auch wieder gesund werden kann, habe kaum jemand im Horizont, sagt Naess, der medikamentös gut eingestellt ist.
Wie er haben auch seine Mitstreiter in anderen hohen Posten viel durch ein "Coming Out" zu verlieren. Noch heikler ist ein solches Bekenntnis jedoch im Radius von Westminster, denn englische Politiker können bei einer psychischen Erkrankung des Amtes erhoben werden.
Zunahme: Psychische Erkrankungen sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch. Die Zahl der durch sie bedingten Krankentage hat sich seit 1990 verdoppelt. Psychische Erkrankungen, darunter am häufigsten Depressionen, liegen bei den Krankentagen nach Muskel- und Skelettkrankheiten (um 25 Prozent), Atemwegserkrankungen (um 16 Prozent) und Verletzungen (15 Prozent) mit knapp zehn Prozent an vierter Stelle.