Patin für 12-jährigen Mohanad Blinde hilft Blindem: Oma-Ersatz für syrischen Flüchtlingsjungen
Er konnte kein Wort Deutsch, besuchte in Syrien keinen Kindergarten oder eine Schule und lebt unter zusätzlich erschwerten Bedingungen. Denn der 12-jährige Mohanad ist blind. In einer Förderschule in Münster hat er eine Patin gefunden.
Münster. Mohanad nimmt Nada Touma an die Hand. Der 12-jährige Flüchtling aus Syrien ist blind. Der Schüler führt die Frau in seinem Klassenzimmer von einem großen Tisch weg zu seinem eigenen Platz. Dort wollen sie gemeinsam Rechnen und Schreiben üben. Nada Toumas Blindenhund schaut kurz auf, bleibt aber brav liegen. Die 60-Jährige folgt dem Jungen vorsichtig quer durch den Raum. Den Slalom durch Tische und kleine Stühle schaffen sie, auch wenn sie mal vor eine Tischkante stoßen.
Denn auch Nada Touma ist blind. Die gebürtige Syrerin kam vor 35 Jahren als Studentin nach Deutschland. Eigentlich wollte sie weiter nach England. Wegen der Liebe blieb sie. Als der Flüchtlingsstrom wegen des Bürgerkriegs in Syrien in Deutschland immer größer wurde, wollte sie unbedingt helfen. Sie wandte sich an die Stadt und die Freiwilligen-Agentur in Münster.
Seit April 2016 betreut sie Mohanad in einer Förderschule für Sehbehinderte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Münster. „Für uns ist das wie ein 6er im Lotto“, sagt Klassenlehrerin Dorothee Holze. Für die Pädagogin übernimmt Nada Touma Aufgaben, die sie aus Zeitgründen nicht leisten kann. „Mohanad ist in Syrien nicht in den Kindergarten oder in die Schule gegangen. Neben dem Sprachproblem muss er viele Regeln auch im Umgang mit seinen Mitschülern erst lernen“, sagt Holze.
Einmal in der Woche übernimmt das jetzt Nada Touma. Jeden Montag ist sie für vier Stunden in der Klasse. Eigentlich arbeitet sie in der Telefonzentrale der Uni Münster. „Meine Kollegen dort müssen in der Zeit meine Arbeit miterledigen. Ohne ihre Bereitschaft wäre das nicht möglich“, erzählt die Flüchtlingshelferin.
„Ich versuche für Mohanad wie eine Oma zu sein“, sagt die gelernte Fremdsprachen-Korrespondentin. Mit ihrem Schützling spricht sie Arabisch. Er ist ein kurdischer Syrer und stammt mit seiner Familie aus dem Osten des Landes. „Auf dem Land in Syrien gibt es keine Angebote für Blinde. Ich bin in Damaskus aufgewachsen und konnte in der Großstadt auf eine Blindenschule gehen“, sagt Touma. Von Mohanads Eltern weiß sie, dass Mohanad diese Chance nie hatte. „Seine Familie hat ihn, weil er blind ist, wohl bewusst abgeschirmt, um ihn zu schützen.“
Mit Touma redet der Zwölfjährige nicht viel über die Zeit in Syrien und die Flucht. Über viele Dinge kann sie deshalb nur Vermutungen anstellen. In die Schule geht der junge Flüchtling gerne, auch wenn er jeden Tag für Hin- und Rückweg aus dem Tecklenburger Land zusammen zwei Stunden unterwegs ist. Mit seiner Helferin lernt er Blindenschrift, Deutsch und wichtige Regeln für das Schulleben.
Für seine Klassenlehrerin ist wichtig, dass Mohanad in der Schule eigene Talente ausprobiert und damit für sich entdeckt. Der kleine Bruder von drei älteren Schwestern macht dabei kleine Fortschritte. „Erste Regeln hat er gelernt. Aber es fällt ihm schwer, sich vier bis vier bis fünf Stunden zu konzentrieren“, sagt Touma. Für sie beginnt die Aufgabe bereits am Sonntag. Dann bekommt sie per Mail von Klassenlehrerin Holze das mögliche Programm für Montag zugeschickt.
Vor Mohanad hat Touma bereits Flüchtlinge bei Behördengängen begleitet und für sie übersetzt. Bei ihrem Start in Deutschland vor 35 Jahren wurde ihr selbst geholfen: „Eine Familie hat mich damals wie eine Tochter aufgenommen.“
Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW sieht bei potenziellen Helfern mit eigener Migrationserfahrung gegensätzliche Reaktionen: „Die einen wollen ihre eigene Flüchtlingsgeschichte lieber hinter sich lassen und engagieren sich nicht. Andere sehen die große Not und wollen deshalb helfen.“ Dass Helfer den Kontakt zu Menschen der eigenen Nationalität suchen, ist nach Naujoks Ansicht ein normaler Reflex. „Bei jedem Einzelfall muss man dann schauen, ob das gut für die Integrationist, zum Beispiel für das Lernen der Sprache“, sagt die Geschäftsführerin des NRW-Flüchtlingsrats. Wer die Hintergründe von Flucht und Vertreibung kennt, habe auf jeden Fall ein besseres Verständnis.
Flüchtling und Helferin Touma fanden in Münster über die Freiwilligen-Agentur zu einander. Landesweit gibt es zahlreiche Internetplattformen, um Hilfe zu koordinieren. Auch die Landesregierung stellte im September 2015 eine Plattform ins Netz. Nach Auskunft einer Sprecherin suchten seitdem 445 Organisationen aus 208 Kommunen Helfer für 476 Projekte.
Nada Touma muss sich vorerst kein neues Hilfsprojekt suchen. Kurz vor Weihnachten signalisierte die Uni Münster als ihr Arbeitgeber, dass das Projekt wohl bis zum Sommer 2017 verlängert wird. „Alles deutet darauf hin“, sagte Sprecher Norbert Robers der Deutschen Presse-Agentur. Die Schulleitung habe per Brief nach den positiven Erfahrungen darum gebeten. Ursprünglich war das Projekt bis Dezember begrenzt.