Das Maß geht verloren
Man muss sich nur umhören, um selbst herauszufinden, wie gestresst die Nation ist: morgens im Büro, mittags in den Kindergärten und Schulen, nachmittags auf den Parkplätzen vor dem Supermarkt oder der Sporthalle, abends im Regionalexpress oder spätabends im Fitnessstudio.
Die Deutschen sind nicht nur im Dauerstress, sie reden auch dauernd darüber. Das kann entlastend wirken, das kann sich aber auch verselbstständigen: Der Begriff "Stress" verliert seinen Alarmcharakter. Jede Anstrengung gilt heute als Stress - gleichzeitig wird tatsächlicher Leistungsdruck zum Normalzustand, zum zeitgemäßen Accessoire einer Überforderungsgesellschaft. Wer nicht gestresst ist, gehört nicht dazu.
Das kann man albern finden, darin liegt aber eine Gefahr: Wenn Stress normal ist, wenn die Workaholics die Schlagzahl vorgeben, dann gerät alles andere in ein falsches Licht: Maßvolles Erledigen von Arbeit, maßvolles Fördern von Kindern, maßvoller Einsatz bei der Pflege von Angehörigen - das mag dann zwar gesünder sein, findet aber keine Anerkennung mehr.