Der Tag, den sie nie vergisst

Ihr Ex-Freund stach Anja Schulze vor neun Jahren nieder. Sie überlebte nur knapp.

Schiffdorf. Jedes Jahr kurz vor dem 2. August hängt Anja Schulze alle Uhren in ihrer Wohnung zu. "Schon die Tage vorher sind furchtbar. Ich kann nicht essen, nicht schlafen, nicht klar denken." Erst wenn die Mittagszeit vorbei ist, kann sie aufhören, ihre Gedanken um den 2. August 2000 kreisen zu lassen.

An diesem Mittwoch liegt Anja Schulze kurz nach 13 Uhr inmitten einer riesigen Blutlache in ihrer Küche in Schiffdorf nahe Cuxhaven. Sie droht zu sterben. Ihr Ex-Freund sticht wie von Sinnen mit einem Messer auf sie ein, vor den Augen ihrer beiden kleinen Kinder - warum, dass wird nie klar. "Zwei Nachbarinnen haben mich schreien gehört. Die sind hochgerannt und haben ihn von mir runter gezogen", erzählt Anja Schulze.

Der Arzt wird später 34 Einstiche zählen. Anja Schulze liegt Wochen im Koma und überlebt. Sie muss erst wieder laufen lernen. Ihre Hände und Arme sind derart zerstochen, dass sie nichts mehr halten, geschweige denn ihre beiden Kleinen tragen kann, die damals noch in Windeln durch die Wohnung düsen. Zu Weihnachten wünscht sich ihr Sohn später kein Playmobil-Haus, sondern nur, "dass Mama mich einmal ins Bett trägt".

Der Täter wird sofort gefasst, kommt in Haft. Er wird begutachtet, bekommt im Gefängnis dreimal am Tag Essen serviert. Und die Opfer? Tagsüber kommt am Anfang eine Haushaltshilfe, stundenweise. Nachts müssen Anjas Eltern ran, beide über 70, um die Kleinen zu versorgen. "Was glauben Sie, wer beispielsweise für die Reinigung der Tatorte in Deutschland zuständig ist?" fragt Anja Schulze. "Die Opfer selbst oder ihre Angehörigen. Meine Nichten haben meine Küche geputzt, von literweise Blut und diversen Fleischstücken befreit."

Dann beginnt der Behördenmarathon, über den Anja Schulze heute sagt: "Sie wissen nicht, was schlimmer ist: Die Tat oder das, was danach kommt. Was der Täter nicht schafft, das schaffen die Ämter." Die 41-Jährige bemüht sich darum, Opferhilfe vom Staat zu bekommen.

Weil sie keinen Stift mehr halten kann, unterschreibt ihr Vater den Antrag. Doch das wird nicht anerkannt, weil sie ihm keine schriftliche Vollmacht erteilen kann. Ihre Entmündigung wird erwogen, um die Behördenvorgaben zu erfüllen, bis ein Richter doch noch Einsehen hat.

Dann folgt Gutachter auf Gutachter. Das Gericht zweifelt die Anzahl der Stichverletzungen an, später dann deren Tiefe. Erst nach neun Jahren und 13 Untersuchungen hat Schulze alle Anträge durch. "Da werden Sie mit einer überdimensionalen Lupe untersucht. Und zwar in der Rechtsmedizin und Sie denken: Eigentlich hätte ich jetzt auch nebenan liegen können, mit einem Zettel am Zeh."

Das Geld wird knapp, es ist eine entwürdigende Zeit. Anja Schulze bittet bei Supermärkten um Gemüse, das sonst in die Tonne geworfen wird. Und immer wieder gibt es absurde Situationen. Da ist die Frau im Schwimmbad, die ihren Narbenkörper angafft und deswegen gegen eine Wand rennt. Oder ihre Anwältin, die in einem Schriftsatz an den Täter aus Gedankenlosigkeit auch die komplette Adresse ihrer Mandantin nennt. Anja Schulze sucht umgehend eine neue Bleibe.

Seit einiger Zeit kann sie wieder arbeiten; sie genießt es. Doch die Angst vor dem Täter lässt sie nicht los. "Der lässt uns jetzt nach neun Jahren Geburtstagskärtchen zukommen und will Besuchsrecht für die Kinder."

Wer Anja Schulze heute auf der Straße trifft, sieht ihr nicht an, wie sehr die Tat vom 2. August 2000 ihr Leben immer noch dominiert. Auswandern, irgendwo ganz neu beginnen, ist das eine Alternative? Nein, sagt sie. "Ich kann sonstwo hingehen, nach Finnland, nach Timbuktu - meine Geschichte nehme ich immer mit."