Ein Leben für den Schneemann
Cornelius Grätz (42) besitzt mehr als 3000 der bauchigen Kerle. Aus einem Hobby ist längst eine Wissenschaft geworden.
Reutlingen. Richtig stehen will der kleine Schneemann noch nicht. Die rundliche Winterfigur lässt schon bald ihr Köpfchen hängen, zu warm ist es. „Am besten werden Schneemänner bei knapp unter null Grad“, sagt Cornelius Grätz. „Dann klebt der Schnee schön und lässt sich gut rollen.“ Grätz muss es wissen, schließlich ist der 42-Jährige in Reutlingen Schneemann-Experte — einer der wenigen seines Faches.
Angefangen hat alles mit einem kleinen Marzipan-Schneemann. Den bekam er als 13-Jähriger von seiner Mutter geschenkt. Jetzt, fast 30 Jahre später, steht das süße Präsent immer noch im Regal, allerdings nicht allein. Mehr als 3000 der bauchigen Figuren hat der Sammler seither zusammengetragen und steht im Guinness-Buch der Rekorde: Schneemänner aus Porzellan, als Teekanne oder auf Dessous; Schneemänner zum aufblasen, draufsetzen und reinschlüpfen.
„Man findet sie inzwischen in allen Lebensbereichen“, erklärt Grätz. „Sogar auf Flachmännern oder Kondomen.“ Wie er zum Schneemann-Fan wurde? „Es kamen einfach immer mehr dazu, bei jedem Geburtstag, bei jedem Einkauf“, erinnert sich der Reutlinger. „Es hat mich wie eine Lawine überrollt.“
Cornelius Grätz
Doch Grätz ist kein einfacher Sammler, der gelernte Buchhändler ist tief in die Archive eingetaucht, hat alles aufgesogen, was er über die Winterfigur in die Hände bekam. Aus einem Hobby wurde eine Wissenschaft. „Die Schneemannologie steckt aber bisher noch in den Kinderschuhen“, sagt er und grinst. Um seinem speziellen Freund eine Ehre zu erweisen, hat er den „Welttag des Schneemanns“ am 18. Januar ins Leben gerufen.
Mittlerweile ist Grätz ein gefragter Experte, seine Sammlung weckt das Interesse von Museen. Zurzeit stellt das Allgäu Museum in Kempten seine Exponate aus. Sogar die Chinesen interessierten sich schon für den Fachmann. Ein Einkaufszentrum in Hongkong präsentierte eine Schau mit Grätz’ Lieblingen. „Die Globalisierung hat den Schneemann in alle Teile der Welt geführt“, erklärt er.
Das bestätigt Martina Schröder vom Heimatmuseum Reutlingen. „Der Vorteil dieser Figur ist, dass sie keinen religiösen oder ideologischen Hintergrund hat“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin, die sich für eine Ausstellung mit der Geschichte beschäftigt hat. Wo und wann der Schneemann genau seinen Ursprung hat, lasse sich nicht mehr rekonstruieren.
Das älteste bildliche Zeugnis, auf das die Forscher stießen, war ein Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert. Dort ist der Schneemann kein freundlicher Geselle, sondern ein griesgrämiger Kinderschreck. „Er symbolisierte früher die bedrohlichen Seiten des Winters“, erklärt Schröder.
Mit dem gesellschaftlichen Fortschritt und Errungenschaften wie Heizung und winterfester Kleidung sei auch die Figur immer milder geworden. Schließlich griffen die Spielzeugindustrie und die Werbung den Mann mit den drei Kugeln auf — der Schneemann wurde zum kitschigen Massenobjekt.
Das muss selbst Grätz eingestehen. „Einige Figuren, die überall glitzern und blinken, verlassen die Grenzen des guten Geschmacks.“ Dennoch ist Grätz weiter auf der Suche nach besonderen Stücken, auch wenn seine Wohnung und der Keller kaum noch Schneemänner beherbergen können. Seine Frau habe sich mit dem Hobby arrangiert. „Sie hat mich ja mit dem Spleen kennengelernt.“