Feingefühl im Kampf gegen den Krebs

Filiz Demir arbeitet als Medizinische Tastuntersucherin für Frauenärzte — nicht obwohl, sondern weil die 42-Jährige blind ist.

Foto: Ekkehard Rüger

Duisburg. Fünf Klebestreifen markieren ihr Terrain. Je zwei verlaufen senkrecht unter den Achseln und über den Brustwarzen, ein fünfter über dem Brustbein. Dann setzt Filiz Demir Zeige- und Mittelfinger auf und beginnt nach einem standardisierten Verfahren mit ihrer Tastuntersuchung. Immer drei Drehungen, immer eine Abwärtsspirale, immer mehr Druck, um auch die tieferen Gewebeschichten zu erspüren. Quadratzentimeter für Quadratzentimeter.

Nach 30 bis 60 Minuten sind beide Brüste der Patientin abgetastet. Im besten Fall ist Demir nichts aufgefallen. Andernfalls merkt sie sich anhand der Streifen die Koordinaten „und am Ende sage ich, dass ich eine Struktur getastet habe. Ich darf keine Diagnose stellen und keine Vermutung äußern.“ Dafür ist der Frauenarzt zuständig.

Filiz Demir ist Medizinische Tastuntersucherin (MTU). Und sie ist blind. Und beides hat unmittelbar miteinander zu tun. Denn die 42-Jährige übt ihren Beruf nicht aus, obwohl sie blind ist, sondern weil sie blind ist. Eine Behinderung wird zur Begabung. Die Erfolgsgeschichte eines Inklusionsprojekts.

Wahrscheinlich ist die Sehbehinderung schon angelegt, als Filiz Demir in Grevenbroich geboren wird. Aber die Einschränkung fällt nicht auf, auch bei der Einschulung nicht. Wenn der Overheadprojektor etwas an die Wand wirft, kann sie es zwar nie lesen. Eine Brille erhält sie aber erst mit zwölf Jahren, als sie auch die Tafelschrift nicht mehr erkennt.

Doch durch Rheuma bedingte Entzündungsschübe verschärfen die Situation von Mal zu Mal. In der 10. Klasse muss Filiz schon dicke Eddings nutzen, um ihre Schrift noch lesen zu können. Noch ein Jahr quält sie sich, dann fällt die Entscheidung, von Grevenbroich nach Marburg an die Deutsche Blindenstudienanstalt zu wechseln, zu dem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit für Blinde und Sehbehinderte, die gymnasiale Oberstufe zu besuchen.

Nach dem Abitur folgt eine Ausbildung zur Datenverarbeitungskauffrau. Doch als 15 Jahre nach dem ersten Auge 2010 auch das zweite erblindet, sieht das kleine Marburger Reisebüro, in dem sie zwischenzeitlich Arbeit gefunden hat, keine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung mehr. Da stößt Demir beim Berufsförderungswerk Nürnberg auf das Angebot der Qualifizierung zur MTU.

Sechs Monate Unterricht, drei Monate Praktikum und dann das Glück, dass eine Bewerbung bei einem Frauenarzt in Duisburg Erfolg hat — nicht irgendeinem Arzt, sondern demjenigen, der Jahre zuvor die Idee zu dieser Qualifizierung hatte.

Ist das wirklich so, dass der Ausfall des einen Sinns die anderen Sinne schärft? „Ja, das ist so“, sagt Demir und lacht. Sie erinnert sich noch an die weichen Knie, als sie zum ersten Mal mit dem Blindenstock durch Marburg zog. „Heute höre ich schon, wenn ich auf größere Hindernisse zulaufe.“ Auch die Hände sind sensibler geworden. Früher hat sie ihre Fühluhr beim Ablesen immer verstellt. Inzwischen reicht ein sanftes Darüberstreichen, und sie weiß, wie spät es ist.

Den untersuchten Frauen kommt diese Sensibilität zugute. „Und zum Glück ist das meiste, das ich ertaste, gutartig“, sagt die 42-Jährige. Zysten, Fibrome und Fibroadenome sind mitunter lästig, aber nicht gefährlich. Wenn sich allerdings später nach allen Folgeuntersuchungen herausstellt, dass es doch Brustkrebs ist, bleibt auch bei der Tastuntersucherin ein mulmiges Gefühl zurück. „Andererseits muss man sich auch bewusst machen, dass es gut war, dass er gefunden wurde und jetzt behandelt werden kann.“

Es ist Ende 2005, als Frank Hoffmann unter der Dusche eine Idee hat. Gerade war das Mammografie-Screening für Frauen über 50 eingeführt worden. Aber der Duisburger Frauenarzt ärgert sich darüber, dass ihm bei Frauen unter 50 im Rahmen der Krebsvorsorge nur zwei bis drei Minuten zum Abtasten bleiben. Guten Gewissens genügt ihm das nicht. Mehr Zeit bräuchte man, eine strukturierte Untersuchung und einen ausgeprägten Tastsinn. Warum dann nicht blinde Frauen mit der Aufgabe betrauen?

Aus der Idee wird ein Pilotprojekt, aus dem Projekt ein dauerhaftes Qualifizierungsangebot. Und mit „Discovering hands“ existiert heute auch eine gemeinnützige Unternehmergesellschaft, bei der die MTUs nach der Qualifizierung sicher angestellt werden. Frauenärzte, die eine Festanstellung der Frauen scheuen oder keine Räumlichkeiten für eine Vollbeschäftigung haben, können sich die Dienstleistung so auch leihweise und zeitlich beschränkt ins Haus holen. Eine Tastuntersuchung kostet 46,50 Euro; von zwölf Krankenkassen wird die Leistung schon vollständig übernommen — als eine von drei Säulen der Brustkrebsfrüherkennung neben Ultraschall und Mammografie.

Mittlerweile gibt es 39 Tastuntersucherinnen bundesweit und fünf Anlaufstellen für die Qualifizierung. Weitere stark sehbehinderte oder blinde Frauen werden dringend gesucht. „Wir sind sehr daran interessiert, mit möglichst vielen Frauen in Kontakt zu treten, die für eine solche Qualifizierung in Betracht kommen“, sagt Hoffmann.

Filiz Demir liebt ihre Arbeit. Sie schätzt die besondere Atmosphäre und ist sich der Intimität der Untersuchung bewusst. „Man gewöhnt sich aber überraschend schnell daran, fremde Frauen anzufassen.“ Viele Patientinnen empfinden es als angenehm, dass es nicht so schnell gehen muss, und trauen sich auch, manche Frage zu stellen, die sie dem Arzt vielleicht nicht stellen würden. „Man kommt ins Gespräch und wird Teil vieler Lebensgeschichten.“ Da ist Empathie gefragt. Am schönsten sind für Filiz Demir aber die vielen positiven Rückmeldungen. „Und wenn jemand ruhig und erleichtert die Praxis verlässt, ist das ein gutes Gefühl.“