Frau Ha ist nicht mehr böse
Die 82-jährige Vietnamesin Ha Thi Quy gehört zu den Überlebenden des Massakers von My Lai. 40 Jahre danach trafen wir sie in Xom Lang, dem Ort, der heute Gedenkstätte ist.
My Lai. Wären die internationalen Gästebucheinträge im Kriegsrestemuseum von Ho Chi Minh Stadt das Maß aller Dinge, hätte es wohl nie Kriege gegeben. Aber Papier ist bekanntlich geduldig, und so bleibt die alte Frage nach dem Warum, gerade hier in Vietnam. Warum wurden Soldaten auf beiden Seiten zu Schlächtern und Vergewaltigern?
Kaum ein Ort steht für eine mögliche Antwort mehr als My Lai in der Mitte Vietnams. Eine Einheit der US-Armee tötete damals 504 Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Greise. Die Soldaten nannten die ganze Gegend My Lai. Gemeint war damit aber nicht nur dieses Dorf, sondern eine Reihe von Ortschaften, darunter Son My, Binh Tay und Xom Lang.
Was in diesem Gebiet am Morgen des 16. März 1968 in nur vier Stunden geschah, bleibt selbst für Hartgesottene unfassbar, lässt die wenigen Überlebenden im Trauma zurück und hat dennoch Jahrzehnte später zur freundschaftlichen Verständigung zwischen Gegnern von einst geführt.
An einem kalten, sonnigen Morgen treffe ich Frau Ha in ihrem Heimatdorf Xom Lang. "Ich war damals sehr böse", entschuldigt sich die alte Frau bescheiden, und es klingt selbst aus dem Mund des Übersetzers so, als sei da jemand böse wegen eines gestohlenen Blumentopfes.
Doch Ha Thi Quy war böse, weil Amerikaner ihre Kinder Duc (2) und Xi (4) töteten. Sie war böse, weil Soldaten ihre Nachbarinnen in zwei Teile zerschossen, Babys wie Tontauben benutzten, ihre Freundinnen vergewaltigten, Skalps nahmen, Ohren abschnitten und weil ihre alte Mutter ebenso wenig verschont wurde wie der Mönch im Dorf.
Frau Ha trägt wegen der Kälte ihre alte, blaue Wolljacke. Die 82-jährige Vietnamesin ist bitterarm, und überhaupt hat es das Schicksal nie gut mit ihr gemeint. "Ich bin doch nur eine einfache Frau - ich wusste vorher nicht mal, was das ist - Amerika", sagt sie leise in ihrer Landessprache.
Die Öffentlichkeit in diesem Amerika erfuhr erst viel später von dem Massaker. Im November 1969 zeigte der TV-Sender CBS Bilder des Armeefotografen Ron Haeberle. Einige Wochen danach veröffentlichte u.a. das Magazin "Life" einen Artikel von Seymour Hersh, der die Umstände der Tragödie recherchiert hatte. Nun war klar, dass amerikanische Jungs zwischen idyllischen Reisfeldern und einem Bilderbuchstrand am südchinesischen Meer zu Schlächtern geworden waren. My Lai ließ die US-Bürger erstmals an der Notwendigkeit des Vietnam-Krieges zweifeln.
My Lai - das ist ein Ort, der in einem Atemzug mit Stätten wie Auschwitz, Srebrenica oder den kambodschanischen Killing Fields genannt werden kann. Dort zeigt die Geschichte, dass aus kultivierten Menschen Bestien werden können.
Aber My Lai ist auch die Geschichte mutiger Männer, wie dem 2006 gestorbenen Hubschrauberpiloten Hugh Thompson, der die US-Soldaten am Boden von seinen Bordschützen in Schach halten ließ, um wenigstens ein paar Dutzend Zivilisten ausfliegen zu können.
In Xom Lang haben die Vietnamesen eine Gedenkstätte eingerichtet. Kaum 12000 ausländische Touristen besuchten 2006 die bei den Einheimischen hoch geachtete Ausstellung. Vor ein paar Monaten war Oliver Stone da. Es gibt Bilder, die den gewichtigen US-Filmemacher und die kleine Frau Ha zeigen. Stones geplanter Film "Pinkville" (US-Armee-Jargon für My Lai) will mit Starbesetzung das Massaker rekonstruieren.
Kaum 200 Menschen überlebten die Tragödie. Die meisten zogen weg aus dieser Gegend - wer will schon auf einem Boden leben, der vom eigenen Blut getränkt ist? Ha Thi Quy ist geblieben, lebt heute allein in einem kleinen Haus unweit des Mahnmals. Wir treffen uns gegen 11Uhr an diesem Frühlingstag. Vor 40 Jahren war am 16. März um diese Zeit das Schlimmste vorbei. Gegen 10.30 Uhr kam der Befehl "Feuer einstellen". Und die Soldaten nahmen die Helme ab, machten Pause.
So schilderte Helikopterpilot Thompson es in Vernehmungsprotokollen: "Aus der Luft sahen wir sie rauchen und scherzen, drei-, vierhundert Meter entfernt lagen schätzungsweise 500 bis 600 Leichen."
Zu dieser Zeit lag Ha Thi Quy schwerverletzt im Bewässerungsgraben unter Dutzenden toter Körper, die ihr Leben geschützt haben. "Tage zuvor hatten Amerikaner mich noch um Wasser gebeten", sagt sie später. Als Dank gab es Süssigkeiten und Zigaretten. Arglos war sie auch diesmal aus der Hütte gekommen, in der sie Kartoffeln schnitt. Doch diesmal brach die Hölle los. Ha Thi Quy schilderte den Beschuss aus den Kampfhubschraubern auf ihre Art: "Die Schüsse fielen wie Regen."
Die 42-jährige Mutter wird zusammen mit ihrem kleinen Sohn Duc zu einem Sammelplatz getrieben. Ohne Vorwarnung schießen die Soldaten. Duc stirbt, seine Mutter wird mehrfach in den Oberschenkel getroffen. "Mein Blut floss wie Wasser", erzählt sie. Irgendwann um die Mittagszeit kriecht Frau Ha aus dem Leichenberg, rettet sich in ein Nachbardorf. Ihr Mann und ein drittes Kind sind seit dem frühen Morgen weitab auf dem Reisfeld und überleben.
Am Mahnmahl, sagt mir der Übersetzer, sei sie an jedem Tag, gedenke ihrer Lieben, pflege die Beete, die die verwitterten Fundamente der Häuser begrenzen. Mehr gibt es an diesem, jetzt friedlichen Ort nicht mehr. Ein paar nachgebildete Ruinen, ein Ehrenmal und Fundamente mit Gedenktafeln, auf denen die Namen der Toten stehen, die in den Häusern lebten, bevor die Army-Bulldozer auch die wegräumten.
Was fragt man so eine Frau. Kann sie vergeben? Ja, vielleicht - so deutet der Besucher ihre Geste. Kann Sie vergessen? Nein, sicher nicht, übersetzt uns der Guide. Nicht umsonst habe sie diese Lebensform gewählt, wohne hier, damit sie ihren Kindern immer ganz nah sein könne.