dpa-Interview mit Justizopfer Wörz: „Alles hinterfragen“
Berlin/Hamburg (dpa) - Die Schrecken der vergangenen 16 Jahre haben Justizopfer Harry Wörz immer noch im Griff. Ein ARD-Spielfilm erzählt seine Geschichte.
Bei der Vorstellung des Films über sein Schicksal wirkt der blasse Bauzeichner Harry Wörz zurückhaltend. Jedoch hat er seinen Aktenkoffer dabei, zieht bei Bedarf zielsicher Dokumente heraus. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa schildert der Schwabe eindringlich, wie extrem alle relevanten Details der juristischen Akten bei ihm in Kopf und Seele präsent sind - und damit seinen Wiedereinstieg in Beruf und Leben belasten.
Frage: Herr Wörz, viereinhalb Jahre unschuldig im Gefängnis, im Anschluss der bis heute andauernde Kampf um Schadenersatz. Wie übersteht man so eine Zeit? Was lässt einen weitermachen?
Antwort: Eigentlich durch Hass und durch Liebe. Ich habe einen guten Freund gehabt, das war der Pfarrer Peter Knop. Der hat immer zu mir gesagt: „Guck', dass du den Hass ein bissle wegbekommst.“ Ich hab' immer aufgepasst, dass der Hass und die Liebe - zum Beispiel die zu meinem Sohn - immer im Gleichgewicht sind. Der Hass - auf Polizei, Staatsanwaltschaft, auf den ganzen Apparat - darf nicht überwiegen. Oftmals habe ich bewusst an positive Beziehungen gedacht. Der Hass sorgt allerdings für Adrenalin im Körper, das pusht einen hoch. So war es der Hass, der mich immer weiter vorangetrieben hat. Ab und zu bin ich auch auf Kriegsfuss mit der Bibel - ich habe mit ihr gehadert und mich gefragt, warum bei mir alles so lange dauert. Jetzt muss ich sogar den Staat verklagen, um an mein Geld zu kommen. Ja, geht's denn noch?
Frage: Haben all diese Erfahrungen Sie an Ihrem Wertesystem zweifeln lassen? Haben Sie eine negative Grundeinstellung bekommen?
Antwort: Ich würde nicht sagen, dass sie positiver geworden ist. Ich sage heute: Man muss eigentlich alles hinterfragen - was die Gerichte machen, was Polizei und Staatsanwaltschaft machen. Das ist es auch, was ich eigentlich den Leuten mit auf den Weg geben möchte. Und was die Medien betrifft: Wenn man vergleicht, was die vor 15, 16 Jahren über mich geschrieben haben und was sie 2009 oder heute schreiben, dann fragt man sich, warum die nicht schon damals mehr nachgefragt haben.
Frage: Trotz allen Elends Ihrer vergangenen Jahre - haben Ihre Erfahrungen Sie auf der anderen Seite vielleicht auch in irgendeiner Hinsicht reifen lassen? So scheinen Sie sehr viel kämpferischer geworden zu sein. Empfinden Sie das auch so?
Antwort: Nein. Nein. Zum Beispiel bin ich beruflich völlig stehengeblieben. Ich kriege ja nichts Neues in den Kopf hinein. Wenn ich eine Din-A-4-Seite Text lese, weiß ich nach der Hälfte nicht mehr, was am Anfang gestanden hat. Von daher bin ich nicht gereift, ich bin eigentlich stehengeblieben. Dafür habe ich sämtliche Akten im Kopf. Wenn Sie mich jetzt fragen: „Was steht im dritten Ordner auf Seite 347?“ Dann kann ich Ihnen das ganz genau sagen: Da geht es um Hausdurchsuchungen. Doch was kann ich mit diesen Aktenkenntnissen schon anfangen? Nichts. Mein Doktor hat zu mir gesagt: „Herr Wörz, von 100 Prozent Speicherplatz im Gehirn haben Sie für das tägliche Leben nur zehn Prozent.“ Der gesunde Mensch, sagt der Arzt, hat 90 Prozent. Deshalb will ich zum Beispiel nirgends groß hin. Ich hab' ja auch nicht hierher gewollt. Das ist zwar wichtig für den Film - aber doch nicht für mich.
ZUR PERSON: Harry Wörz (47) saß viereinhalb Jahre unschuldig hinter Gittern. Man warf ihm vor, 1997 seine von ihm getrennt lebende Ehefrau mit einem Schal fast hirntot stranguliert zu haben. Erst im Frühjahr 2009 sprach ein Richter des Landgerichts Mannheim Wörz von jeglicher Schuld frei.