"Geballte Ladung Integrationsförderung, mitten in einer deutschen Familie"
Familie Schulten war lange zu dritt — bis sie vor einem Jahr entschied, zwei geflohene albanische Jugendliche bei sich aufzunehmen.
Ratingen. Und dann standen sie plötzlich vor der Tür: Bekim und sein jüngerer Bruder Orgito, zwei albanische Jungs im besten Pubertätsalter, dazu zwei Mitarbeiterinnen des Ratinger Jugendamts. Es war der 3. April 2017. Und Caren Schulten und ihrem Mann Christian war in diesem Moment noch nicht wirklich klar, dass sie damit auf absehbare Zeit auch der Vergrößerung ihrer Familie von drei auf fünf die Tür öffnen würden.
Man kann aus der Distanz trefflich über Flüchtlingsfragen streiten: Kommen zu viele oder schaffen wir das? Wer darf bleiben und wer muss wieder gehen? Welche Motive für Migration sind akzeptiert und welche nicht? Man kann auch schlicht die Tür öffnen und gucken, was passiert — ohne ideologischen Überbau, einfach nur, weil da zwei stehen, denen jetzt irgendwie geholfen werden muss. Familie Schulten hat das gemacht.
Orgito war ihnen schon bekannt. Christian Fettweiß-Schulten hatte den begabten Fußballer zwei Jahre zuvor von Homberg in das von ihm trainierte Jugendteam von Ratingen 04/19 gelockt. Als der Asylantrag von Orgitos Eltern abgelehnt wurde und der ganzen Familie die Abschiebung drohte, suchte der Trainer mit seinem Schützling und dessen Vater einen Fachanwalt für Asylrecht auf: Ob der Junge nicht wenigstens das Schuljahr in Deutschland beenden könne? Aber das Ausländeramt lässt Familientrennungen nicht zu. Die Familie kehrte Ende Dezember 2016 freiwillig nach Albanien zurück.
Drei Monate später brach sie wieder auf, diesmal nach Italien. Aber Orgito und sein älterer Bruder wollten nicht noch einmal von vorne anfangen: eine neue Sprache, keine Freunde, ein fremdes Land. Sie wollten dahin zurück, wo sie drei prägende Jahre erlebt hatten: nach Ratingen. Also machten sie sich auf den Weg. Alleine. Anfang April waren sie da — mit einer Tasche und zwei Rucksäcken. Zum Rest der Familie gibt es seither keinen Kontakt mehr.
„Wir bekamen einen Anruf vom Ratinger Jugendamt“, blickt Caren Schulten, Marketingleiterin dieser Zeitung, zurück. „Ob wir jemanden kennen würden, der die Jungs aufnehmen könnte. Sonst würden sie in eine Unterkunft nach Kaarst gebracht.“ Sohn David hatte keine Bedenken („Ich wollte eigentlich immer ein Geschwisterkind“), Schulten selbst schon eher. Auf einmal drei pubertierende Jungs im Haus, davon zwei ganz anders sozialisiert und muslimisch? Würde es Probleme mit deren Vorstellung von der Rolle der Frau geben? „Gucken wir mal, wie es läuft“, sagte sie sich schließlich. Und es lief.
Dabei ist die rechtliche Situation denkbar vage. Ein neuerlicher Asylantrag hätte kaum eine Chance auf Erfolg. Die Duldung der beiden Brüder muss alle drei Monate verlängert werden, zur Ausreise sind sie weiter verpflichtet. Aber als Minderjährige dürfen sie nur abgeschoben werden, wenn gesichert ist, dass sie vor Ort von den Eltern in Obhut genommen werden können.
Für die Schultens hatte ihre Entscheidung ganz unmittelbare Konsequenzen. Der Mallorca-Urlaub war 2017 längst gebucht, aber Orgito und Bekim dürfen Deutschland nicht verlassen. Also wurde für die beiden auf die Schnelle eine zweiwöchige Ferienfreizeit an der Ostsee organisiert. Als Orgito nach einer Woche Windpocken bekam, musste Caren Schultens Vater in die Bresche springen und den Jungen versorgen. „Dieses Jahr fahren wir eine Woche mit dem Wohnmobil durch Ostdeutschland und dann besuchen die beiden ein Fußballcamp.“
Bekim ist in seine alte Gesamtschulklasse zurückgekehrt, im Sommer wird er seinen mittleren Schulabschluss machen. Orgito hinkt durch die Zeit in der Integrationsklasse und anfängliche Sprachschwierigkeiten etwas hinterher. Derzeit besucht er eine 6. Klasse. Unternehmensberater Fettweiß-Schulten ist mit seinem Büro inzwischen in den Keller gezogen, damit sich die beiden Jungs sein früheres Arbeitszimmer teilen können. Und Sohn David? „Ich habe noch nie gesagt, dass ich keinen Bock mehr habe. Im Sommer waren wir fast jeden Tag zusammen draußen. Wenn ich Fahrrad fahren will, gehe ich fünf Meter weiter ins nächste Zimmer und frage, ob jemand Lust hat.“
Aber nicht alles löst sich in Wohlgefallen auf. Bekim vermisst vor allem seinen zweijährigen Bruder Leidon, der noch in Deutschland geboren wurde. Und Orgito war um Weihnachten herum so von Heimweh geplagt, dass sich massive psychosomatische Schmerzen einstellten. Auch Caren Schulten ist klar: „Man kann nicht die ganze Welt retten.“ Aber diesen zwei Jugendlichen, denen kann man doch versuchen zu helfen.
Sie und ihr Mann versuchen vor allem seit einem Jahr, alle drei Kinder gleich zu behandeln: Was für David gilt, gilt auch für die anderen. „Die beiden Jungs kriegen eine geballte Ladung Integrationsförderung, mitten in einer stinknormalen deutschen Familie“, sagt Fettweiß-Schulten. „Wir können uns voll und ganz um sie kümmern und brauchen dabei keine Unterstützung.“
Und es gibt klare Grenzen: bei der Mediennutzung; bei der Frage, ob man in Sportklamotten in die Schule gehen darf; bei der Frage der Frisuren. „Man sollte die Stereotype nicht bedienen“, findet Caren Schulten. Dass es in Ratingen nicht gewünscht ist, dass Pflegeeltern die Vormundschaft übernehmen, macht die Sache nicht immer leichter. Allein die Kontoeröffnung für die beiden Brüder zog sich deswegen ein halbes Jahr hin.
Wenn Bekim im Sommer die Schule beendet hat, wird er im August beim Van der Valk- Airporthotel eine Ausbildung als Koch beginnen. Eine über den Willkommenslotsen der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf initiierte Ausbildungsduldung wird dem Betrieb die nötige Sicherheit geben.
Unternehmensberater Fettweiß-Schulten war wichtig, für den 15-Jährigen einen Beruf zu finden, „der zu ihm passt und Lücken schließt, die in der Gesellschaft bestehen“. Denn in Konkurrenz zu deutschen Bewerbern hätte Bekim in der Regel schlechtere Chancen. „Außerdem werden die Jungs vom Staat unterstützt. Dann ist es gut, wenn am Ende des Tages auch für alle etwas Positives herauskommt.“
Schule, Ausbildung — und dann? Allzu weit in die Zukunft planen die Schultens nicht. „Wir wollen uns nicht verrückt machen, indem wir ständig darüber nachdenken“, sagt Caren Schulten. Bekim und Orgito, so ist ihre Einschätzung nach einem Jahr, „fühlen sich bei uns gleichzeitig zu Hause und als Gäste.“ Fragt man die beiden Jugendlichen selbst, wie sie ihren Aufenthalt empfinden, kommt ihnen vor allem ein Wort über die Lippen: Glück.