„Scripted Reality“ in der Kritik

Berlin (dpa) - Wenn die Wirklichkeit nicht genug Stoff bietet, dann muss ein wenig nachgeholfen werden, um die Zeit zwischen den Werbepausen zu überbrücken. Das geht mit der „Scripted Reality“, der von den Fernsehmachern inszenierten Wirklichkeit.

Doch die ist umstritten.

Sie schreien sich an, sie stänkern, sie pöbeln - vornehmlich an den Nachmittagen geht es im deutschen Privatfernsehen richtig zur Sache. Da geht es ums Sorgerecht, um Nachbarschaftsauseinandersetzungen, um Diebstahl, ums Erbe und um Mobbing. Der Fernsehmarktführer RTL macht mit TV-Formaten wie „Mitten im Leben“, „Verdachtsfälle“, „Familien im Brennpunkt“ und „Die Schulermittler“ richtig Quote und Kasse. Auch Sat.1 ist mit seinen Gerichtsshows und „Zwei bei Kallwass“ gut dabei, ProSieben hat sich längst wieder für Serienwiederholungen entschieden.

Doch zunehmend hat sich ein gesellschaftlicher Diskurs über das Für und Wider dieser Art von Quotenjagd entwickelt. Denn die TV-Reihen, die den Anschein erwecken, sie seien dokumentarisches Material aus der Wirklichkeit, sind nach Drehbuch inszenierte Geschichten, auch die Gerichtsshows funktionieren mit erdachter Handlung. Die Sender weisen in ihren Vor- und Abspännen auch auf die konstruierten Storys hin - von „Scripted Reality“ ist daher die Rede. Doch merken die Zuschauer wirklich, was echt und was nicht echt ist?

Die Kritiker beginnen sich jetzt stärker zu formieren. Neuester Beleg dafür ist eine Studie der Gesellschaft zur Förderung des internationalen Jugend- und Bildungsfernsehens, eine Einrichtung beim Bayerischen Rundfunk, die damit zwar beim natürlichen Gegner der Privatsender, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, angesiedelt ist, aber diese Studie zusammen mit der Landesanstalt für Medien in Nordrhein-Westfalen (LfM) in Auftrag gegeben hat - und die kontrolliert die privaten Fernsehveranstalter. RTL hält wiederum mit einer eigenen Untersuchung dagegen.

Der Kern der neuen Studie sagt aus: 51 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren meinen, dass die Reality-Soaps mit erdachter Handlung bei der Lösung von Problemen helfen (Antwortmöglichkeiten: „Stimmt total“ und „Stimmt eher“). 51 Prozent finden auch, man könne mal so richtig über dumme Leute ablachen. 30 Prozent der Befragten glauben tatsächlich, dass es sich bei den Filmen um echte Dokumentationen handele, immerhin 48 Prozent sind der Auffassung, die Soaps seien nachgespielte Szenen aus der Wirklichkeit.

Die Studie kommt zum Ergebnis, dass „das fehlende Erkennen des fiktionalen Charakters“ zu einer „fehlenden Distanzierung bei der Konfrontation mit der Problemlage führe - „kein humanistisches Menschenbild, nach dem jeder Mensch aus seiner Perspektive sinnhaft handelt“. Das TV reduziere die Menschen auf „gut“ und „böse“ - mehr nicht. Die Untersuchung ist jedoch nicht vollständig repräsentativ, nur im Bereich der jüngeren Kinder (728 wurden befragt) bis zwölf, bei den Älteren liege eine „qualitative Befragung“ von insgesamt 133 Personen der Auswertung zugrunde.

Für Maya Götz vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) ist es wichtig, dass künftig über „Scripted Reality“ diskutiert wird, damit ein gesellschaftlicher Diskurs zustande komme. Für sie sind die „Scripted Reality“-Formate allein aus der „Marktlogik“ entstanden, weil die Realität nicht mehr spektakulär gewesen sei und daher immer neue Stoffe hätten erfunden werden müssen. Die Folge: Eine Aneinanderreihung von Skandalen ohne Ende.

Der Privatsender RTL hält mit einer eigenen Studie vom März 2011 dagegen. Die repräsentative Forsa-Umfrage stützt sich auf Personen von 14 Jahren an aufwärts und sagt aus: 82 Prozent der Befragten wüssten, die Geschichten seien ausgedacht. Allerdings meinen auch viele (77 Prozent), dass diese Sendungen einen Einblick in andere Lebenswelten gäben, dass die Serien sehr unterhaltsam seien (71 Prozent), die Geschichten gar nicht so weit von der Realität entfernt seien (67 Prozent) und dass sie immer ein lösungsorientiertes Ende böten (55 Prozent).

Dass gerade Kinder in Mitleidenschaft gezogen würden, will RTL gar nicht zulassen: „Wir nehmen die Belange von Kindern auf verschiedene Art und Weise sehr ernst“, sagt Sendersprecher Christian Körner. „Dennoch möchten wir festhalten: RTL ist kein Kinderprogramm, das machen unsere Kollegen von Super RTL im Tagesprogramm viel besser, auch und gerade unter pädagogischem Aspekt. Was zuhause geschaut wird, entscheiden jedoch die Eltern. Sie entscheiden auch, ob sie selbst dabei sind oder nicht.“

Eltern, so argumentiert der Privatsender weiter, sollten ihren sechs- oder siebenjährigen Kindern erklären und für sie einordnen, was um sie herum in ihrer Lebenswelt passiere - das gelte vermutlich nicht nur für eine TV-Sendung bei RTL nachmittags um 14 Uhr. „Woher sonst sollten Kinder in einem Alter, in dem sie Vor- und Abspann noch nicht einmal lesen können, selbst wenn sie wollten, Einordnung bekommen?“ Und die Älteren sähen das Programm als genau das, was es ist: Unterhaltung.

RTL fährt mit seinen Sendungen Quoten ein, die deutlich über dem Durchschnitt liegen: Zwischen 24,0 Prozent Marktanteil („Mitten im Leben“?) und 29,6 Prozent („Familien im Brennpunkt“) erzielte der Sender in diesem Jahr laut Marktforschungsfirma Media Control beim Zielpublikum zwischen 14 und 49 Jahren. Preiswerte Meterware beschert dem Sender einen maximalen Werbeerlös. Doch wird das Eis mal brüchig? Nie hat ein Programmgenre am Nachmittag länger als fünf bis acht Jahre durchgehalten: Die täglichen Talks verschwanden bei RTL ebenso aus dem Programm wie die Gerichtsshows.

Und auch andere Vorboten machen stutzig: Die „Super Nanny“ Katharina Saalfrank, umstrittene Kindererzieherin am Mittwochabend, warf das Handtuch unter anderem deswegen, weil die Inszenierung sich in ihre Pädagogik einmischte, wie sie mitteilte. RTL bleibt seiner Strategie aber treu: „Erst Ende letzter Woche erreichten wir mit "Familien im Brennpunkt" starke 34 Prozent Marktanteil, Thema der Sendung: Internetmobbing“, sagt Körner. „Solange wir auch am Nachmittag Themen und Nerv der Zuschauer treffen, werden wir die entsprechend gekennzeichnete Erzählweise kaum ändern.“