Dortmund-Tatort „Schwerelos“ Tatort von der Straße des Elends
Den heutigen (3.5.2015) Dortmund-Tatort „Schwerelos“ versteht man nur, wenn man weiß, wer ihn produziert hat: Hans W. Geißendörfer, der Vater der „Lindenstraße“. Und genau so ist er auch geraten.
Dortmund/Köln. Im August 2013 flackerte kurz Hoffnung über dem Guantanamo der deutschen Fernsehunterhaltung auf: Es hieß, für die Produktion der „Lindenstraße“ auf dem Stacheldraht-umzäunten Studiogelände in Köln-Bocklemünd wolle der WDR künftig weniger Geld ausgeben, die Serie vielleicht sogar langsam auslaufen lassen. Für nur noch 2,9 Millionen Zuschauer seien 185.000 Euro Kosten pro Folge zu viel, auch könne man ein paar Folgen ganz weglassen, hieß es weiter.
Das ließ sich Hans W. Geißendörfer als Produzent und „Vater“ der Lindenstraße natürlich nicht gefallen, trommelte hinter den Kulissen seine Verbündeten zusammen, und dann hörte die Öffentlichkeit nichts mehr darüber, wie viel denn nun bei der Lindenstraße eingespart wird, die am 8. Dezember seit 30 Jahren läuft. Und als habe das eine mit dem anderen nichts zu tun, verkündete der WDR schließlich: Geißendörfers Produktionsfirma darf künftig einen Dortmund-Tatort pro Jahr produzieren.
Entsprechend begeistert ist Geißendörfer: „Lange ersehnt“ sei dieser erste Tatort für ihn gewesen, noch vor der Lindenstraße habe er „in die Riege der Tatort-Produzenten aufsteigen“ wollen. Und das hat natürlich auch einen Grund: Man könne sich sicher sein, dass das Produkt von vielen Menschen gesehen werde, „als Produzent wünsche ich mir das große Publikum!“ Man darf ohne Übertreibung festhalten: Dieser Wunsch beruht nachweislich nicht auf Gegenseitigkeit.
Eine WDR-Sprecherin versicherte auf Nachfrage, dass es sich bei dem Auftrag (Wert: rund 1,5 Millionen Euro) nicht um eine Kompensation für die Lindenstraßen-Kürzung handele. Um was auch immer es sich handelt: Ausbaden muss es am Sonntagabend der Zuschauer. Denn mit dem Budget und Schauspiel-Personal des Tatort hat Geißendörfers Firma eine XXL-Folge der Lindenstraße produziert: Die Welt ist ein Jammertal, besonders in Dortmund, und wer das anders sieht, der nach Geißendörfers Doktrin des Belehrungs-Fernsehens bloß zu borniert, um das wahre Ausmaß des Elends zu erkennen.
Dass damit die Figuren-Entwicklung, die Jürgen Werner als Drehbuchautor über die ersten fünf Dortmund-Tatorte seit 2012 mühsam aufgebaut hat, nahezu komplett zerstört wird, darauf kann der Vater der Lindenstraße natürlich keine Rücksicht nehmen. Denn der Zuschauer soll schließlich nicht unterhalten, sondern aufgeklärt werden. Wo diesem hehren Ziel die Handlung eines Krimis im Weg steht, wird sie kurzerhand weggelassen. Schließlich sitzt man um 20.15 Uhr ja nicht zum Spaß vor dem Fernseher, zumindest nicht bei Geißendörfer.
Das bisschen Handlung der Tatort-Folge „Schwerelos“: Der Fallschirmspringer Leo Janek wird von Unbekannten schwer verletzt vor der Notaufnahme eines Krankenhauses abgelegt (und muss natürlich sterben). Peter Faber (Jörg Hartmann) und Martina Bönisch (Anna Schudt) ermitteln in seinem persönlichen Umfeld, wo es zuletzt oft „Spannungen“ gab, wie es im Pressetext der Folge heißt: „in seinem Job bei einer Bank, mit seiner Frau Klara und dem Sohn Martin sowie mit dem Schwager Frank, dem er einen Kredit verschafft hatte. All das empfand der abenteuerlustige Leo Janek als Einbahnstraße. Den Kick holte er sich beim Fallschirmspringen.“
Die Jung-Kommissare Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) kommen Geißendörfers Team gerade recht, um anhand ihrer zerbrochenen Beziehung noch ein bisschen mehr menschliches Elend in die Folge zu bringen: Nora flirtet bis zur Selbstgefährdung mit dem Fallschirm-Lehrer, Daniel leidet und entwickelt sich zum Stalker. Die Verdrehung geht soweit, dass Kommissar Faber — der ja eigentlich der Bekloppte vom Dienst ist — in den einzig normalen Charakter der Folge verwandelt wird. Beschädigt sind sie letztlich alle; gefangen in ihrer Sehnsucht nach Freiheit, aber es reicht eben nur zur Flucht in riskante Freizeitgestaltungen.
Wahrscheinlich, weiß der geübte Geißendörfer-Zuschauer, ist die Gesellschaft schuld. Nur ansehen will man sich diesen drögen Sozialkundeunterricht als Tatort-Zuschauer bis zum sehr vorhersehbaren Ende eher nicht.