Tratschthema in der Teeküche Wie TV-Serien in den Alltag dringen

Berlin (dpa) - Von der Fußmatte grüßt Walter White. „I am the one who knocks“ - ich bin der, der anklopft, ruft der Drogenmischer aus „Breaking Bad“ auf der Kokosfaser.

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Wer bei Serienjunkies.de in Berlin-Friedrichshain anklopft (oder klingelt), fühlt sich schnell zuhause in der Welt von Netflix, Amazon, Maxdome und den anderen Anbietern von Videos auf Abruf. Walter White, der Protagonist der mittlerweile legendären Serie, ist in diesen Kreisen ein Anti-Held.

Zwischen Devotionalien und Bildschirmen surft rund ein Dutzend Redakteure auf der wachsenden Serien-Welle. Mit ihren Berichten und Neuigkeiten ist Serienjunkies.de ein treibender Teil der aktuellen Fernsehrevolution. 2016, sagt Mitgründerin Hanna Huge, haben die Serien die Gesprächshoheit in Deutschland erobert.

Auf Partys oder in der Teeküche - der Satz „Ich schaue gerade...“ gefolgt von einem (meist englischen) Titel ist immer öfter in Wohnzimmern und Büros zu hören. Die Videos auf Abruf sind dabei, die Sehgewohnheiten radikal zu verändern.

„Fernsehen heißt jetzt Streaming“, erklärte der Multimedia-Verband Bitcom im Juli zu einer Studie über das TV-Verhalten der Deutschen. Demnach schauen gut drei Viertel der Internetnutzer ab 14 Jahren Filme, TV-Sendungen oder „Video on Demand“ (VoD). Besonders beliebt sind die Webseiten und Mediatheken der Sender. Ein Viertel nutzt bereits Video-Portale, die Filme und Serien auf Abruf und gegen Geld anbieten, ergab die Umfrage im Auftrag von Bitcom.

Immer größere Übertragungs- und Speicherkapazitäten ebnen den Anbietern den Weg auf Bildschirme und Displays. Für das traditionelle, sogenannte lineare Fernsehen, sind die neuen Konkurrenten eine Herausforderung. Das ZDF hat bereits auf den Wandel reagiert und seine Mediathek neu gestaltet.

Die Flut an neuen Serien ist riesig. In Fachkreisen wird schon von „Peak TV“ gesprochen, von einem Produktionsgipfel. „Bei 450 Starts, die für nächstes Jahr in den USA geplant sind, wird auf dem amerikanischen Markt wohl bald der Zenit überschritten sein“, sagt Joerg Winger, der zusammen mit seiner Frau Anna Winger als sogenannte „Showrunner“ für die RTL-Spionage-Serie „Deutschland 83“ verantwortlich war, die mittlerweile in weite Teile der Welt verkauft wurde und bei Amazon als „VoD“ im Angebot ist.

US-Konzerne können mit fast unerschöpflichen Produktionsgeldern rechnen. Netflix hält nach Angaben seines Vorstandschefs Ted Sarandos sechs Milliarden US-Dollar für Inhalte bereit. Allein für „The Crown“ über Queen Elizabeth waren nach Branchenberichten 130 Millionen US-Dollar für die erste Staffel eingeplant - soviel wie für einen Hollywood-Blockbuster.

Im Serienboom wittern auch deutsche Produzenten eine Chance. „Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung“, sagt Winger, der für die Produktionsfirma UFA gerade an der Fortsetzung von „Deutschland 83“ („Deutschland '86“) arbeitet. Der vielfach preisgekrönte Saga eines DDR-Grenzsoldaten, der von der Stasi in die Bundeswehr eingeschleust wird, schnitt auf RTL mit mauer Einschaltquote ab und wanderte bald in das Amazon-Angebot, wo sie jetzt über mehrere Jahre Zuschauer sammeln soll.

Produzenten sprechen dabei von einem „long tail“, sozusagen dem langen Atem, mit dem über Jahre hinweg und über verschiedene Verwertungswege die Produktionen vermarktet werden. „Ich gehe davon aus, dass in den kommenden Jahren zu den heutigen Größen wie Netflix und Amazon neue Player hinzukommen, Telekommunikationsunternehmen etwa“, sagt Winger.

Der UFA-Produzent ist sich sicher: Mit hochwertigen Dramaserien lasse sich eine Aufmerksamkeit erzeugen, die etwa mit Sportereignissen nicht erreicht werde. „Sport ist gut für Live-TV, aber wer schaut sich schon das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft von 2006 wieder an?“. Die Mafia-Serie „Die Sopranos“ ging nach der Ausstrahlung im Bezahlfernsehen und in der DVD-Version in das Streaming-Angebot über. Fast 18 Jahre nach dem Start sammelt die Mafia-Familie aus New Jersey noch immer Adepten.

Für viele Fachleute gibt es in der Fernsehgeschichte eine Zeit vor und eine Zeit nach den „Sopranos“: „Sie haben eine neues Fernseh-Zeitalter eingeläutet“, sagte Terence Winter, Mitautor der mittlerweile legendären Produktion, Anfang November bei einer Gesprächsrunde des Erich Pommer Instituts. Das Institut mit Sitz in Potsdam bildet Serien-Fachleute für den deutschen Markt aus.

Tatsächlich stellen die Serien die Art und Weise, wie wir bisher fernsehen, infrage. Dazu gehört etwa die Fähigkeit, eine ganze Staffel im sogenannten „binge watching“ oder „Komaglotzen“ über Stunden anzuschauen. Oder in die manchmal filigranen Erzählformen einzusteigen, wie etwa bei den Science-fiction-Serien „Sense8“ oder „Westworld“.

Und Serien dringen in den Alltag ein. Das traditionelle Fernsehen gehe von einem begrenzten Zeitkontingent der Zuschauer aus, schreibt der TV-Kritiker James Poniewozik („New York Times“). Streaming-Dienste stellen dagegen das Programm wann und wo auch immer zur Verfügung - über das klassische TV-Gerät aber auch auf dem Smartphone oder Laptop, auf Reisen, im Urlaub, am Wochenende. Und wenn sie sich einmal eingeloggt haben, bauen Zuschauer eine lange Beziehung zu ihren Helden auf, die sich über Jahre hinziehen kann, Staffel für Staffel.

Auf diesen Trend setzt auch Serienjunkies.de. Mit rund 3,6 Millionen Visits und 14 Millionen Seitenaufrufen im Monat hat das Portal einen eigenen Kosmos für Fans geschaffen. In einem kleinen Studio wird der episodenbegleitende Podcast zu „Game of Thrones“ aufgenommen, der jede Woche rund 20 000 Hörer während der Ausstrahlung hat. Im Sommer gab es ein „Game of Thrones“-Live-Event in Berlin, auf dem Fans über die aktuell erfolgreichste Serie debattierten.

Zwar ist Serienjunkies-Mitgründerin Huge nicht mehr nur mit Seriengucken beschäftigt. Sie muss sich jetzt vor allem um neue Werbekunden kümmern. Doch noch immer sei sie in der Lage, ganze Staffeln auf einmal zu schauen. „Wer nicht 18 bis 20 Folgen auf einmal wegdrücken kann, ist nicht wirklich ein Seriennerd“, sagt sie.