Henning Scherf: „Baustopp für Pflegeheime“
Henning Scherf fordert eine bessere Integration von Senioren. Doch die seien zum Spekulationsobjekt für Investoren geworden.
Ratingen. Altern und Pflege sind für viele Menschen ein Angstthema. Nicht aber für Bremens ehemaligen Bürgermeister Henning Scherf (SPD). Der 74-Jährige tritt, wie nun bei seinem Besuch in Ratingen, offensiv für ein selbstbestimmtes Altern ein und wehrt sich im Interview mit unserer Zeitung gegen eine Pflegeindustrie, die Ängste schüre, um damit Milliarden zu verdienen.
Herr Scherf, die Deutschen werden immer älter. Erwartet uns damit automatisch die Pflege?
Henning Scherf: Es gibt einige, die das behaupten, weil sie dahinter ein großes Geschäft wittern. Es werden derzeit viele Pflegeheime gebaut, weil die Investoren denken: Die kommen schon.
Ein sicheres Geschäft?
Scherf: Nein, in Bremen und anderen Städten gibt es immer mehr Leerstände in Pflegeheimen, weil die Menschen sich nicht abschieben lassen wollen. Und außerdem gibt es bei weitem nicht genug Personal, um die Heime vorschriftsmäßig zu betreiben.
Welche Konsequenzen hat das?
Scherf: Wenn wir nicht zügig umsteuern, erleben wir einen Pflege-Gau — aus wirtschaftlichen, aus personellen und aus Gründen zu geringer Belegung.
Warum wird dieses Risiko eingegangen?
Scherf: Weil es mittlerweile einen großen Markt gibt, der auf 50 bis 60 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt wird. Die Anleger sehen darin ein sicheres Geschäft mit bis zu 15 Prozent Rendite, weil die Sozialversicherungskassen dahinter stehen. Deshalb werden jetzt pleite gegangene Kliniken und Kureinrichtungen auf der Grünen Wiese aufgekauft und in Großeinrichtungen umgebaut.
Warum das?
Scherf: Weil man darauf spekuliert, dass die Städte in den Zentren für den demografischen Wandel nicht genug vorsorgen und dann keine andere Wahl bleibt.
Sie sind selbst 74. Wie fühlt man sich als Spekulationsobjekt?
Scherf: Die meisten wissen ja gar nicht, dass sie eines sind. Aber die anderen wie ich sagen: Das ist meine Biografie. Ich sorge für mich selbst vor, dass ich im Alter Menschen um mich habe, denen ich vertrauen und die mir helfen. Und wenn das nicht mehr klappt, hole ich mit eine Ambulanz.
Sie lehnen Pflegeheime also komplett ab?
Scherf: Ich bin für ein Moratorium, was den Neubau von großen Pflegeeinrichtungen angeht. Die Kommunalverwaltungen sollten lieber mit den Wohnungsbaugenossenschaften und Sozialeinrichtungen kleinzellige Netzwerke bilden, die auf dem Nachbarschaftsgedanken basieren.
Wie sähe das konkret aus?
Scherf: Man sollte alle Möglichkeiten der vertrauten Umgebung nutzen — von der Kneipe bis zum Tante-Emma-Laden —, damit die Älteren eingebunden und nicht abgeschoben werden. Dabei muss man gestalten und zum Beispiel auch Leerstände besser nutzen, anstatt sie verkommen zu lassen.
Dem gegenüber steht eine starke Pflegelobby. Ist da der Gesetzgeber gefordert?
Scherf: Die Weichen sind richtig gestellt, da ambulant vor stationär gilt. Aber in der Praxis gehen immer noch die meisten Mittel in die stationäre Pflege. Pflegende Angehörige werden oft rüde alleingelassen. Es gibt in Deutschland noch viel zu wenig ambulante Möglichkeiten.
Was kann jeder Einzelne tun?
Scherf: Sich früh Gedanken darüber machen, wie und mit wem er im Alter leben möchte. Meine Planung geht bis zum Tod: Ich will in vertrauter Umgebung sterben, dort wo Menschen sind, die sagen: Wir lassen Dich nicht allein.