Jean-Jacques Rousseau: Rebell und resignierte Seele

Genf/Berlin (dpa) - „Rousseau pour tous - Rousseau für alle“: Unter diesem Motto feiert die Stadt Genf den 300. Geburtstag ihres Sohnes Jean-Jacques Rousseau. Zu seinen Lebzeiten wurde der Philosoph in seiner Heimatstadt weniger geschätzt.

So gehört ein weiterer Jahrestag zum Rousseau-Gedenken dieser Wochen dazu: Vor 250 Jahren veranlassten die Genfer Behörden, zwei Hauptwerke des Jubilars zu verbrennen, die pädagogische Lehrschrift „Émile“ und das politische Traktat „Du Contrat Social“ (Vom Gesellschaftsvertrag).

Umstritten blieb Rousseau auch im Urteil der Nachwelt. „Aber die meisten haben ihn selektiv rezipiert“, sagt der Frankfurter Rousseau-Forscher Iring Fetscher, „haben das genommen, was ihnen in den Kram passte und das übersehen, was ihrer Rezeption widersprach.“

So befeuerte Rousseau die Französische Revolution, vor allem den radikalen Jakobiner Maximilien Robespierre, der seine Schreckensherrschaft in den Jahren 1793/94 auf einem verqueren Verständnis der politischen Theorie Rousseaus aufbaute. Dessen Handeln hätte Rousseau sicherlich entschieden abgelehnt, vermutet Fetscher.

Vorbild für Rousseaus politische Philosophie, die sowohl nach Demokratie als auch nach sozialer Gleichheit strebte, waren kleine, relativ unabhängige Gemeinwesen wie die damalige Republik Genf. Im Mittelpunkt seiner Theorie steht die Frage, was die Gesellschaft zusammenhalten soll, wenn es keinen absolutistischen Herrscher mehr gibt. So entwickelte er das Konzept einer Volonté générale, eines ideellen Gemeinwillens aller Bürger - nicht zu verwechseln mit der Volonté de tous, der Mehrheitsmeinung, wie sie in Wahlen und Abstimmungen zum Ausdruck kommt.

Erst spät hat Rousseau seine Gedankenwelt formuliert. Geboren am 28. Juni 1712 als Sohn eines Uhrmachers in Genf - kurz danach stirbt die Mutter - kommt Jean-Jacques als Zehnjähriger in die Obhut eines Pfarrers. 1728 flieht er aus Genf, weil er von seinem Lehrmeister regelmäßig geschlagen wurde. Es folgen unstete Wanderjahre, die ihn durch die Schweiz, Frankreich und Oberitalien führen.

Rousseau arbeitet als Gesangslehrer, verdient Geld mit dem Abschreiben von Noten, komponiert Unterhaltungsmusik im Stil der Zeit und versucht sich mit dem Schreiben von Theaterstücken. Er lebt mit einer Frau zusammen, die er erst 1768 heiratet. Ihre fünf Kinder gibt Rousseau ins Heim - eine damals verbreitete Praxis, die ihm heftige Kritik einbringt.

Eine entscheidende Wende nimmt sein Leben im Jahr 1749: Auf dem Weg ins Gefängnis von Vincennes bei Paris, wo Rousseau seinen Freund Dennis Diderot besuchen will, stößt er in einer Zeitschrift auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon, „ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat“. In seiner Autobiografie der „Confessions“ (Bekenntnisse) beschreibt Rousseau diesen Moment: „Heftiges Herzklopfen droht mich zu ersticken; ich kann nicht mehr atmen und werfe mich unter einen der Bäume an der Landstraße.“

Der Beitrag für den Essay-Wettbewerb der Akademie wird zum Auftakt einer radikalen Zivilisationskritik, überraschend gewinnt Rousseau den Preis und wird mit einem Schlag bekannt. Seine Oper „Der Dorfwahrsager“ wird 1752 in Anwesenheit von König Ludwig XV. aufgeführt - aus Trotz gegen die öffentliche Meinung erscheint Rousseau dabei in Alltagskleidung und schlecht rasiert. So macht er zunächst keine Karriere.

Aber dank der Zuneigung adliger Frauen kann sich der Gesellschaftsrebell in der Abgeschiedenheit der Ortschaft Montmorency nördlich von Paris dem Schreiben widmen: 1761 erscheint der Roman „Julie ou la Nouvelle Héloïse“, 1762 folgen der „Émile“ und der „Contrat Social“.

Der anschließenden Ächtung, erst in Paris, dann in Genf, folgt eine Art inneres Exil und eine intensive Zuwendung zur Natur, zur Botanik. Als Rousseau auch aus dem Schweizer Dorf Môtiers vertrieben wird, zieht er sich auf die Petersinsel im Bielersee zurück. „Je resignierter er ist hinsichtlich der politischen Lage, desto wichtiger wird für ihn der einsame Spaziergang, die Einheit mit der Natur“, erklärt Fetscher.

Zunehmend isoliert, sich ständig krank und verfolgt fühlend, verbringt Rousseau die letzten elf Jahre seines Lebens in Frankreich. In Ermenonville, nordwestlich von Paris, stirbt er am 2. Juli 1778.

Wenn heute nach Möglichkeiten einer Erneuerung der Demokratie gesucht wird, scheint Rousseau wieder ganz aktuell. „Es geht nicht nur um Abstimmungen und Mehrheitsmeinungen“, sagt die Berliner Politikwissenschaftlerin Julia Schramm, Mitglied im Bundesvorstand der Piratenpartei.

„Es geht viel stärker auch darum, was die Werte einer Gesellschaft sind.“ Und da gebe es durchaus Verbindungslinien von Rousseaus politischer Philosophie zur Liquid Democracy, dem Demokratiekonzept der Piraten, sagt Schramm und fügt hinzu: „Deren Ziel ist es ja, über das demokratische Legitimieren von Expertenmeinungen diese Volonté générale zu finden und umzusetzen.“