Kiffen als Wirtschaftsfaktor Kiffen als Wirtschaftsfaktor - wächst eine deutsche Cannabis-Industrie?

Berlin. Sie tragen mal Anzug und Seitenscheitel, mal Pulli und Rasta-Locken. Sie wollen Marihuana aus der Ecke der Hippie-Drogen holen - und schwärmen von der Aussicht auf einen Milliardenmarkt.

Foto: Paul Zinken

Es ist ein bunter Haufen aus Geschäftsleuten, Experten und Ärzten, die sich diese Woche zu Europas erster „Cannabis-Business-Konferenz“ in Berlin versammelt haben. Nach dem Start eines Gesetzes, das Cannabis in Deutschland zumindest für schwer kranke Patienten in der Apotheke per Rezept verfügbar machen soll, wittert die Branche den Durchbruch. In den USA, Kanada oder Israel ist der Rummel um Cannabis als Wirtschafts- und Gesundheitsfaktor schon länger groß. Gelingt den Deutschen der Anschluss?

Die Organisatoren des Treffens sehen wegen der „zukunftsweisenden Regulierung“ und des Interesses von Investoren jedenfalls erhebliches Potenzial hierzulande. Und auch Berlin als „eine der fortschrittlichsten Städte des Planeten“ spiele eine Rolle. Pierre Debs, Biologe und Chef des Start-ups MedCann, ist überzeugt: „Pharmazeutische Anwendungen von Cannabis werden in Deutschland eine wachsende Industrie.“ Die Firma aus St. Leon-Rot bei Heidelberg - inzwischen von der börsennotierten kanadischen Canopy Growth gekauft - ist im Handel mit den süßlichen Blüten an Apotheken aktiv. „Noch gibt es große Unterschiede zwischen hier und Nordamerika“, sagt Debs. „Aber später einmal werden die Märkte vielleicht vergleichbar sein.“

Das Potenzial im Medizin-Segment liege in der Bundesrepublik bei 800 000 bis 1,5 Millionen Patienten. Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte rechne indes mit weit weniger registrierten Nutzern. Seit dem 10. März können Ärzte Cannabis-Präparate verschreiben - wenn alle übrigen Behandlungswege ausgeschöpft sind. Bislang brauchte man dafür eine Sondergenehmigung, die das Bundesamt nur etwa 1000 Mal vergab. Während Patienten bisher privat bezahlten, soll im Regelfall die Krankenkasse einspringen, falls sie ein erstes Rezept genehmigt. „Vor zwei bis drei Jahren wollten viele Investoren noch nichts mit dem Thema zu tun haben“, berichtet Debs. Das habe sich gewandelt. Eine staatliche Cannabis-Agentur soll nun den Markt beaufsichtigen und Produzenten lizenzieren; erstes Gras aus deutschem Anbau könnte es ab 2019 geben.

„Berlin war ein guter Ort für diese Konferenz“, erklärt Debs. „Es gibt viele junge Menschen und soziale Bewegungen hier, und das neue Bundesgesetz ist aktuell einmalig in der Welt.“ Zwar gelten insbesondere US-Bundesstaaten wie Colorado als Magnet für Cannabis-Unternehmer. Finanziers bewegen in dem Land riesige Summen, es gibt satte Steuereinnahmen und zahlreiche Marihuana-Shops. Die Marktforschungsgruppe Arcview ermittelte für 2016 Verkäufe legaler Cannabis-Produkte in Nordamerika im Wert von 6,2 Milliarden Euro. Doch seit dem Antritt der neuen Regierung nahm die Unsicherheit wieder etwas zu. Donald Trumps heutiger Justizminister Jeff Sessions meinte vor zwei Jahren: „Gute Menschen rauchen kein Marihuana.“ Der kalifornische Kongressabgeordnete Dana Rohrabacher - in vielen Fragen ein strammer, konservativer Republikaner - gab sich auf der Berliner Tagung ironisch-selbstbewusst.

„Make Cannabis Great Again“ stand auf einer Mütze, die er in Anspielung auf den bekannten Trump-Spruch trug. Daheim war Rohrabachers Einfluss auf die medizinische Legalisierung beträchtlich. Er ist Miturheber einer Regelung, die es dem Justizministerium in Washington erschwert, stark in die einzelstaatlichen Marihuana-Programme hinein zu regieren. Kann der von den Konferenzteilnehmern beschworene Zusammenschluss von Gesundheitswirtschaft und Politik auch in Deutschland fruchten?

Peter Waßmuth von der „Berlin-Apotheke“ am Roten Rathaus glaubt, dass die diskutierten mindestens 800 000 Nutzer durchaus realistisch sein könnten. „Es hängt aber auch an der Kostenerstattung der Kassen.“ Sollte sich eine entsprechende Nachfrage ergeben, könne dies über den Wirkstoff THC hinaus auf Hilfsmittel wie Verdampfer ausstrahlen. Ein ganz anderes Thema ist die Frage, ob mittel- bis langfristig eine vollständige Legalisierung kommt, wie Aktivisten seit Jahren fordern. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen betonte unlängst: „Marihuana bleibt die Drogenart mit den mit Abstand höchsten Fallzahlen.“

Die sichergestellte Pflanzenzahl stieg zuletzt weiter. Michaela Goecke von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) warnt: „Die Risiken des Cannabis-Konsums werden in Teilen der Bevölkerung unterschätzt - insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass Pflanzen mittlerweile eine wesentlich höhere THC-Konzentration haben.“ In der Ärzteschaft gibt es indes auch Stimmen, die wenigstens dem medizinischen Handel wohlwollend gegenüberstehen.

Für Josef Mischo, Chef der Arbeitsgruppe Sucht und Drogen in der Bundesärztekammer, ist es „gut, dass die therapeutischen Möglichkeiten erweitert werden“. Ob sich dadurch insgesamt auch mehr THC-Therapien ergeben, sei offen. Dass der einzelne Arzt nach eigenem Gusto über die Eignung von Cannabis befinden muss, könne für manche Patienten - und Lieferanten - auch eine Herausforderung werden, warnt Debs: „Der Knackpunkt ist, dass Ärzte weitergebildet werden.“

Nutzer, deren Sondererlaubnis im Sommer endet, müssten zudem rasch einen Mediziner finden, der zum Rezept bereit ist. „Kein Gesetz ist perfekt.“ Apotheker Waßmuth sieht das ganz ähnlich: „Der Gedanke, dass Cannabis gesellschaftsfähig ist, ist noch nicht wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“