Kulturhauptstadt Breslau mit Brückenfunktion
Breslau (dpa) — Vom Venedig Niederschlesiens zu sprechen, ist vielleicht ein wenig übertrieben. Aber Brücken spielen im Stadtbild von Breslau (Wroclaw) mit seinen Oderarmen und -inseln eine wichtige Rolle.
Als Brücke zwischen Ost und West sehen auch viele Breslauer ihre Stadt mit ihrer komplizierten, tragischen Geschichte.
In kaum einer anderen Stadt kam es durch den Zweiten Weltkrieg zu einem so totalen Umbruch. Das deutsche Breslau endete im Mai 1945. Das polnische Wroclaw musste seine Identität noch finden — und den Menschen, die aus dem ostpolnischen Lwow — heute Lwiw in der Westukraine, angesiedelt wurden, erst eine Heimat werden.
Doch das ist 70 Jahre her. Drei Generationen sind herangewachsen. Für die jungen Einwohner der Stadt ist die Grenzfrage, die ihren Großeltern und auch noch Eltern einst so viele Ängste vor einer „Rückkehr der Deutschen“ bereitete, längst kein Problem mehr. Das deutsche Erbe der Stadt wird nicht verdrängt, es gehört zum vielschichtigen kulturellen Erbe der Stadt. Und deutsche Besucher stehen nicht unter Revanchismusverdacht, sondern werden auch außerhalb des Kulturjahres mit deutschsprachigen Angeboten umworben.
„Breslau hat eine Geschichte zu erzählen“, sagt Magdalena Babiszewska, Sprecherin der Organisatoren der Kulturhauptstadt. „Unsere Angebote richten sich nicht nur an Besucher, sondern auch stark an die Einwohner der Stadt.“
Es soll ein Jahr des Mitmachens und Mitfeierns werden, mit bewährten Festivals, die im kommenden Jahr größer und umfangreicher sein werden, aber auch mit neuen Projekten, die Performance, Musik und Literatur nicht nur auf die große Bühne, sondern auch in die Stadtteile bringen. Auch wirtschaftlich soll das Kulturjahr etwas bringen — die Organisatoren hoffen, dass im kommenden Jahr die Zahl der Touristen verdoppelt werden kann.
Mit einigen Programmteilen haben die Breslauer schon vor dem offiziellen Start am 17. Januar begonnen. Das Kunstprojekt „Mosty“ (Brücken) gab schon in diesem Sommer einen Ausblick auf das Kulturjahr und soll 2016 wiederholt werden. Einen Tag lang wurden 26 Brücken der Stadt in Kunstprojekte verwandelt.
Schon jetzt üben tausende Freiwillige, damit am Eröffnungswochenende alles bei der großen Performance „Przebudzenie“ (Erwachen) von Chris Baldwin alles klappt. Baldwin, der auch einer der acht Kuratoren des Kulturjahres ist, will aus allen Himmelsrichtungen vier Menschenzüge mit riesigen Figuren in Bewegung setzen, die für die religiöse Vielfalt, den Wiederaufbau, das Hochwasser und die Innovation stehen, symbolisch die Geschichte der Stadt erzählen und am Ende zu einer Gesamtinstallation vereint werden sollen.
Nähere Einzelheiten will Sprecherin Babiszewska aber nicht verraten. „Es soll doch eine Überraschung werden“, betont sie. Ganz bestimmt aber werde es ein starker Auftakt und erster Höhepunkt des Kulturjahres werden.
Der Info-Punkt des Festivals ist schon jetzt im Veranstaltungszentrum „Barbara“ geöffnet. In den 70er Jahren traf sich hier die „Orange Alternative“, eine Künstlergruppe, die mit anarchistischen Happenings die Staatsmacht gegen sich aufbrachte. Mittlerweile ist hier eher ein Treffpunkt hipper junger Kreativer, die im durchgestylten Zentrum am Laptop ihre neuesten Projekte planen.
Etwa 150 Projekte und Veranstaltungen werden die Breslauer und ihre Besucher durch das Jahr begleiten. Einige wollen vor allem kleinen Kulturinitiativen vom Kindergarten bis zur Seniorengruppe eine Plattform geben, andere sind spektakulärer angelegt, etwa wenn am 1. Mai Tausende Gitarrenspieler auf dem Marktplatz von Breslau gemeinsam den berühmten Jimi-Hendrix-Song „Hey Joe“ anstimmen. Mitmachen kann jeder, der das Lied beherrscht und mit der Gitarre in die Odermetropole reist.
Breslau ist im kommenden Jahr nicht nur Kulturhauptstadt, sondern obendrein Welt-Buch-Hauptstadt der Weltkulturorganisation Unesco. Im April wird deshalb das Museum von Pan Tadeusz geöffnet, das sich ganz dem in Versform geschriebenen bekanntesten Werk des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz widmet.
Mit einer Nacht der Literatur sollen auch Büchermuffel an ungewöhnlichen Orten, in Kellern, Kirchen und auf Türmen zu Lesungen gelockt werden. Musikalisch darf natürlich polnischer Jazz nicht fehlen — an drei Wochenenden im Frühjahr und Sommer wird er im Mittelpunkt stehen. Einer der Höhepunkte dürfte ein Konzert des Pink Floyd-Gitarristen David Gilmour mit dem polnischen Jazzpianisten Leszek Mozder vor dem neu gebauten Nationalen Musikforum sein.
Gegen Ende des Kulturjahres steht ein Großereignis für Cineasten an: Am 10. Dezember werden in Breslau die Europäischen Filmpreise vergeben. Bereits von September an wird eines der Breslauer Kinos nicht nur die für 2016 nominierten Filme zeigen, sondern auch die preisgekrönten der Vergangenheit. Natürlich auch den polnischen Film „Ida“ von Pawel Pawlikowski, der 2014 den Europäischen Filmpreis erhielt und als bester fremdsprachiger Film mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.