Unglück mit 21 Toten Loveparade-Prozess: 166 Verhandlungstage und ein Ende in Sicht?

Düsseldorf · Fast neuneinhalb Jahre liegt das Loveparade-Unglück mit 21 Toten nun schon zurück. Der Strafprozess gegen Mitarbeiter des Veranstalters geht nächste Woche ins dritte Jahr. Dass er im nächsten Sommer wegen Verjährung endet, ist neuerdings zumindest fraglich.

Foto: dpa/Erik Wiffers

Bei den vielen Verhandlungstagen im Loveparade-Prozess muss man ein bisschen aufpassen - schnell hat man sich verzählt. War zum Beispiel der 166. Verhandlungstag jetzt schon? Ja, am Donnerstag. Weitere 54 angesetzte Tage stehen an diesem Tag auf einer langen Liste, die bei jeder Sitzung vor dem großen Gerichtssaal auf dem Düsseldorfer Messegelände ausgehängt wird. Meistens sind es drei pro Woche: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Die letzte Verhandlung könnte demnach am 11. August 2020 sein. Muss aber nicht.

Der Strafprozess begann vor zwei Jahren am 8. Dezember 2017. Wann was genau geschah, spielte in diesem komplexen Prozess immer schon eine wichtige Rolle. Angefangen etwa bei der Frage, bis zu welcher Uhrzeit am 24. Juli 2010 die Katastrophe mit 21 Toten und Hunderten Verletzten noch hätte abgewendet werden können. Bis hin zur derzeit aktuellen Frage, wann eigentlich genau die absolute Verjährung der vorgeworfenen fahrlässigen Körperverletzungen eintritt, wenn psychische Spätfolgen erst Wochen oder Monate nach dem Unglück auftraten.

Das Unglück: Zum Veranstaltungsgelände in Duisburg gab es nur einen einzigen Zu- und Abgang, der an der engsten Stelle laut Anklage nur 10,59 Meter breit war. Als Zehntausende auf das Gelände wollten, entstand ein so großes Gedränge, dass 21 Menschen erdrückt und mindestens 652 verletzt wurden. Wo die Menschen starben, sollen auf einem Quadratmeter damals mindestens sieben Menschen zusammengepresst worden sein, hieß es in der zum Prozessauftakt verlesenen Anklage.

Nach jahrelangen Ermittlungen und juristischem Tauziehen begann der Prozess zunächst gegen zehn Beschuldigte. Vier leitenden Mitarbeitern des Veranstalters Lopavent und sechs Mitarbeitern der Stadt Duisburg warf die Staatsanwaltschaft fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung vor. Von schweren Planungsfehlern war die Rede. Die Verfahren gegen die städtischen Mitarbeiter und einen Lopavent-Beschäftigten wurden im Februar 2019 wegen vermutlich geringer Schuld ohne Auflagen eingestellt. Bei den drei verbliebenen Beschuldigten stand damals eine Einstellung gegen Geldauflage im Raum. Sie lehnten ab. Er wolle nicht auf sein Recht verzichten, freigesprochen zu werden, hatte ein Angeklagter damals als Grund für die Ablehnung angegeben.

Verhandlungstag 164 am vergangenen Dienstag: Von „Prozessalltag“ zu sprechen, wird nur dem äußeren Rahmen gerecht, zu sehr hängt dauerhaft der Schatten des Unglücks, des großen Leids über allem. Immer wieder kam und kommt es auch an vermeintlich unwichtigeren Verhandlungstagen zur Sprache: An diesem Dienstag etwa in einer Äußerung eines Nebenklage-Anwalts, als es um die Frage geht, ob seine Mandantin bereit wäre, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen. „Sie ist bereit“, sagt er. „Ob sie das schafft, ist eine andere Sache. Sie bricht sofort in Heulkrämpfe aus, wenn man darüber spricht.“ Im Gedränge sei sie damals ohnmächtig geworden.

Zwei Jahre Loveparade-Strafprozess. 43 Nebenkläger gibt es noch, 15 weniger als vor einem Jahr. Sie werden von 29 Anwälten vertreten. „Das Verfahren findet weiterhin in einer sehr konzentrierten und zielorientierten Atmosphäre statt“, teilt das Gericht auf Anfrage mit. „Es ist spürbar, dass sämtliche Verfahrensbeteiligten - Verteidiger, Nebenklage-Anwälte und Staatsanwälte - nach wie vor an der Aufklärung der Ereignisse interessiert sind und daran konstruktiv mitwirken.“

Der Vorsitzende Richter Mario Plein hat der Aufklärung stets eine große Bedeutung beigemessen. Im Oktober 2018 sagte er etwa: „Mir ist es ein großes Anliegen, dass wir nach dem Ende des Verfahrens sagen können, warum die Kinder der Nebenkläger gestorben sind und warum da viele verletzt worden sind. Wir werden die Fragen, die dringend zu beantworten sind, hier beantworten. Wir werden sagen, was die Ursache für die Katastrophe war“, versprach er damals.

96 Zeugen wurden bislang befragt, acht Sachverständige angehört. Bis zum März sollen noch weitere rund 25 Zeugen gehört werden, etwa Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten, sagt der Sprecher des Duisburger Landgerichts, Thomas Sevenheck. Dann soll der Gutachter vortragen. DER Gutachter, der an allen Verhandlungstagen teilnimmt und dem Gericht gegenüber sitzt. Prof. Jürgen Gerlach ist Experte für Verkehrssicherheit und Sicherheit bei Großveranstaltungen. Das Gutachten umfasst mehr als 3800 Seiten und enthält mehrere Simulationsvideos mit Analysen von Besucherströmen. Schriftlich liegt es allen Beteiligten seit einem Jahr vor, veröffentlicht wurde es noch nicht. Es bildete aber eine wichtige Grundlage für das sogenannte Rechtsgespräch Anfang des Jahres, in dem es um den weiteren Prozessverlauf ging. Wenig später wurden die Verfahren gegen sieben Angeklagte eingestellt.

Ist Prof. Gerlach fertig, will Plein wieder mit allen Beteiligten reden, „den Sachstand auf der Basis der bis dahin gewonnen Erkenntnisse erörtern“, wie es vergangene Woche in einer Mitteilung hieß. Was dabei herauskommen könnte, ist noch ziemlich unklar.

Fest steht seit vergangener Woche allerdings, dass es mit dem erwarteten Prozessende im Sommer 2020 wegen der eintretenden absoluten Verjährung zehn Jahre nach dem Unglück so ohne Weiteres nichts wird. Bezogen auf den Vorwurf der fahrlässigen Tötung tritt die Verjährung mit Ablauf des 27. Juli 2020 ein, wenn bis dahin kein Urteil ergeht. „Hinsichtlich des Vorwurfs der fahrlässigen Körperverletzung könnten jedoch andere Verjährungszeitpunkte in Betracht kommen“, teilte das Gericht nun mit. Wenn es nämlich um psychische Spätfolgen gehe, könne sich der Verjährungsbeginn auf den Zeitpunkt verschieben, ab dem solche Folgen eingetreten seien.

Mit anderen Worten: Trat zum Beispiel eine sogenannte „Posttraumatische Belastungsstörung“ erst ein halbes Jahr später auf, würde sich die absolute Verjährung für den Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung um ein halbes Jahr nach hinten verschieben. Neue Gutachten sollen nun zunächst bei zehn Nebenklägern klären, ob ihre Spätfolgen auf den Ereignissen beruhen und ab wann sie auftraten.

Und das öffentliche Interesse? „Das Zuschauerinteresse hat abgenommen“, sagt Sevenheck. Am Dienstag, als ein ehemaliger Feuerwehrmann als Zeuge befragt wird, sind zwei Jurastudentinnen aus Bochum da, die für eine Studienbescheinigung ein Protokoll über vier Verhandlungstage schreiben. Und ein Mann, der unentwegt mitschreibt, fast an jedem Verhandlungstag. „Für eine Broschüre“, erzählt er. Man könne ihn „Autor“ nennen. Mehr verrät er nicht. Auch vier Journalisten sind gekommen.

Außerhalb des Gerichtssaals haben sich zwei Theater des Unglücks angenommen. Das Schlosstheater in Duisburgs Nachbarstadt Moers hat ein „Rechercheprojekt“ mit dem Titel „Parade 24/7“ begonnen. Es sei „ein Versuch, sich diesem Unglück auf der Basis von Interviews, Zeugenaussagen, Protokollen und Medienberichten mit theatralen Mitteln zuzuwenden“, heißt es in einer Mitteilung. Premiere ist am 19. Februar. Auch das Duisburger Kinder- und Jugendtheater KOM'MA arbeitet an einem Theaterstück, das voraussichtlich Ende März erstmals gezeigt wird. Darin wolle man sich kritisch mit der Frage auseinandersetzen, wie es zu dem Unglück habe kommen können und wie im Nachhinein damit umgegangen worden sei. Die Katastrophe selbst sei auf der Bühne nicht darstellbar. Das Stück werde für Zuschauer ab 16 Jahren konzipiert.

Der Prozess wird fortgesetzt. Am 10. Dezember geht es weiter.

(dpa)