Minenopfer: Zwei, die mit Prothese leben
Der Hamburger Mario Galla modelt — trotz Handicap. In Kambodscha ermutigte er junge Menschen, die mit ähnlichen Behinderungen leben müssen.
Düsseldorf. Mario Galla? Von dem Deutschen, der 2010 bei einer Modenschau mit Beinprothese in kurzer Hose über den Laufsteg flanierte und Furore machte, hat Kanha Theng noch nie gehört. Die Schülerin lebt in Kambodscha, und mit Mode hat sie nichts am Hut. Kanha ist 14, sie büffelt derzeit Englisch und Geschichte und möchte Anwältin werden. Oder Ärztin.
Die beiden treffen sich in ihrer Schule im Provinzdorf Memot. Sie bestaunt Gallas Karbonprothese — und traut sich dann, selbst das Hosenbein hochzuziehen: Vor acht Jahren riss ein Blindgänger ihr das rechte Bein halb ab, auch sie trägt eine Prothese. „Ich schaue nach vorn, nicht zurück“, sagt Kanha.
Er sage nie „Das kann ich nicht“, erzählt ihr der 28-jährige Galla. Er kam mit einem 20 Zentimeter verkürzten Oberschenkel zur Welt. Seine Mutter traute ihm trotzdem alles zu: Fußball, Basketball — Galla war mit Beinprothese dabei.
Vor sieben Jahren sprach ein Model-Scout den großen Blonden mit dem markanten Gesicht an einer Imbissbude in Hamburg an. Mit dem Stempel als Vorzeige-Behinderter, den er nach dem plötzlichen Medienrummel 2010 trug, hatte er zunächst Probleme: „Ich habe mich selbst nie als behindert wahrgenommen.“ Inzwischen hat er sich damit arrangiert. Galla hat neben dem Modeln studiert, er ist Kommunikationsdesigner.
Der 28-Jährige ist mit „Handicap International“ unterwegs. Er unterstützt die Organisation, die sich in aller Welt für Menschen mit Behinderung einsetzt. In einstigen Kriegsgebieten wie hier in Kambodscha hilft sie vor allem den Opfern. Vor 15 Jahren trat zwar das Landminen-Verbot, die sogenannte Ottawa-Konvention, in Kraft. Aber die tödliche Gefahr ist längst nicht gebannt.
Galla war noch nie in Südostasien. Ihn berühren die Begegnungen mit Minen- und Blindgängeropfern. Für viele Menschen ist die Versorgung mit Prothesen hier keine Selbstverständlichkeit, weil sie auf dem Land leben, fernab von angemessener ärztlicher Versorgung.
Die Minenräum-Behörde (CMAC) arbeitet zwar mit Hochdruck daran, die tödlichen Kriegsreste aus Feldern und Wäldern zu räumen. Wie mühselig das ist, zeigen aber Thiery Oeun (27) und ihre Kollegen. Sie sind in der Region Kampong Cham nordöstlich der Hauptstadt Phnom Penh mit dicker Schutzkleidung und Metalldetektor im Einsatz: Sie stecken meterweise Land ab, gehen vorsichtig mit dem Metalldetektor darüber.
Nach Angaben von CMAC können die 5000 Minenräumer im Land etwa 100 Quadratkilometer im Jahr räumen; die noch verminte Fläche wird auf 2000 Quadratkilometer geschätzt. 15 Entminer sind in den vergangenen 20 Jahren umgekommen, sagt CMAC-Direktor Heng Ratana, 65 wurden verletzt. 2013 fanden und zerstörten seine Teams 123 000 Minen und Blindgänger. 1999 kamen in Kambodscha mehr als 1100 Menschen durch Minen und Blindgänger um, im vergangenen Jahr waren es noch 111.
Die Orthopädiezentren mit Prothesenfertigung und Physiotherapie, die „Handicap International“ in Kambodscha aufgebaut hat, helfen zunehmend mehr Unfall- als Munitionsopfern. Channa Hav (5) ist ebenfalls Patientin.
Sie wurde mit einem halben Bein geboren. Gerade hat sie ihre dritte Prothese bekommen. Sie hat es Mario Galla sichtlich angetan. Er nimmt die Kleine mit dem hellen Plastikbein auf den Arm: „Die wohl süßeste Fünfjährige der Welt“, schwärmt er entzückt.
Mit Kanha zwängt sich der 1,86 Meter große Galla fürs Foto auf die kleine Schulbank: „Nicht gerade einfach für uns mit den Prothesen.“ Die beiden fachsimpeln noch eine Weile über das Problem mit den Druckstellen nach langem Laufen.
Da entdeckt Galla, dass Kanhas Prothese wie alle in Kambodscha einen Zwischenraum zwischen dem großen und den anderen Zehen hat — damit die Leute Flipflops, die weit verbreiteten Gummilatschen mit Steg zwischen den Zehen, tragen können. „Ich werde richtig neidisch“, sagt Galla. „Ich nehme im Sommer Espandrillos, aber Flipflops, die wären richtig cool.“