Mord im Krankenhaus: Kliniken wollen Whistleblower

Wenn Krankenschwestern oder Pfleger zu Mördern werden, steht auch die Klinik mit dem Rücken zur Wand. Warum hat das niemand früher gemerkt? Aus Fehlern zu lernen hieß zum Beispiel für die Berliner Charité, es Whistleblowern leichter zu machen.

Berlin (dpa) - In Dresden ermordet eine Krankenschwester Patienten mit zu hoch dosiertem Insulin. Lebenslange Haft lautet das Urteil 2010. Auch der „Todespfleger von Sonthofen“ muss 2006 lebenslang ins Gefängnis, weil er Klinikpatienten zu Tode spritzte. Was unvorstellbar klingt, geschieht immer wieder. Das zeigt der jüngste Prozess um einen ehemaligen Pfleger im niedersächsischen Delmenhorst, wo an diesem Donnerstag das Urteil erwartet wird.

Lassen sich solche Serientaten nicht früher erkennen? Es sind Fragen, die auch Kliniken umtreiben. Seit April 2014 ist das interne Melden von Beinahe-Unfällen über das CIRS-System für Kliniken in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben. Manche Häuser versuchen, zusätzlich Frühwarnsysteme aufzubauen, um es Whistleblowern (etwa: Tippgeber) einfacher zu machen, die auf mögliche Straffälle hinweisen wollen.

Die Berliner Charité etwa, die heute in Rankings zur Patientensicherheit sehr gut dasteht, durchlief vor acht Jahren eine Reputationskrise: Auch hier hatte eine Krankenschwester in den Jahren 2005 und 2006 fünf schwerstkranken Patienten Medikamente verabreicht, die zum Tod führten. Weder die Kranken noch Angehörige hatten um Sterbehilfe gebeten.

Mögliche frühe Indizien durch das Pflegepersonal seien damals nicht zu einem Gesamtbild zusammengetragen worden, resümiert Jan-Steffen Jürgensen, der heutige Leiter des klinischen Qualitäts- und Risikomanagements der Charité. Mit fatalen Folgen: Bis die Zusammenhänge klar waren, brachte die Schwester drei weitere Patienten um. Das Urteil lautete auf Mord und lebenslange Haft. In der Begründung fand sich auch eine ungewöhnlich harsche Kritik am Klinikum.

Heute gibt es an der Charité mehrere Frühwarnsysteme, die Ärzte, Pflegepersonal, Mitarbeiter und Patienten bei Missständen nutzen können - auch anonym. Eine dieser „Hotlines“, das sogenannte Vertrauenstelefon, ist direkt ein Ergebnis des Skandals von 2007. Die Leitung führt zu einem Rechtsanwalt, der sich das Anliegen von Klinik-Mitarbeitern anhört. „Dieses Angebot wird rund zwei bis dreimal im Jahr genutzt“, berichtet Jürgensen.

Einmal befürchtete ein Pfleger die Misshandlung eines Kindes. Denn er hatte den Jungen nach einer Operation im Aufwachraum mit einer Wunde am After gesehen. „Wir konnten diesen Vorfall schnell aufklären“, sagt Jürgensen. „Der Junge hatte sich auf einer Holzschaukel einen Splitter in den Po gerammt. Bei der Operation ging es darum, einen Abszess zu beseitigen.“ Dennoch sei die Reaktion des Pflegers richtig gewesen - und von der Klinik gewollt.

Für Mitarbeiter gibt es neben dem Vertrauenstelefon die Möglichkeit, durch anonymisierte Mails kritische Vorfälle zu melden. Auch das Critical Incident Reporting System (CIRS), ein anonymes Meldesystem für Beinahe-Fehler, übernommen aus der Luftfahrt, hilft bei der Erkennung von Risiken im Behandlungsverlauf. Wie viele Meldungen via CIRS bundesweit bisher gesammelt wurden, ist laut Deutscher Krankenhausgesellschaft jedoch nicht bekannt. Und zum Aufdecken unlauterer und krimineller Vorfälle sei CIRS auch nicht in erster Linie gedacht, hieß es dort.

In der Charité laufen heute rund 400 CIRS-Meldungen pro Jahr ein. Manchmal hat das ganz praktische Auswirkungen, um Behandlungsfehlern vorzubeugen. So spritzte ein Arzt einem Patienten mit Magensonde beinahe ein Medikament versehentlich in einen Venenkatheter, statt ihm die Flüssigkeit korrekt über die Sonde zu verabreichen - was lebensgefährlich hätte werden können. Seitdem haben Spritzen für den oralen Gebrauch in der Charité eine andere Farbe und passen zusätzlich nicht mehr auf Venenkatheter.

Auch am Klinikum Oldenburg, wo der jetzt vor Gericht stehende Pfleger ebenfalls arbeitete und derzeit 20 unklare Todesfälle überprüft werden, ist vieles umgekrempelt worden - unter anderem sind hier Kalium-Infusionen heute blau eingefärbt, um sie keinesfalls mit den harmlosen Kochsalzlösungen zu verwechseln. Am Klinikum in Delmenhorst ist das interne Check-System um spezielle Todesfall-Prüfungen erweitert worden. Weitere Maßnahmen sind den Angaben des Klinikum-Anwalts zufolge in Planung.

„Wir haben CIRS schon seit einigen Jahren, daneben mehrere weitere interne Sicherungssysteme. Außerdem arbeiten wir derzeit an einem Whistleblowing-System, das ab April an den Start soll“, sagt der Oldenburger Klinik-Geschäftsführer Dirk Tenzer. „Damit wollen wir die Hemmschwelle weiter senken, Missstände anonym zu melden.“

Ein von der Geschäftsführung unabhängiger Klinik-Beauftragter soll den Vorwürfen nachgehen - auch in anonymem Austausch mit den Whistleblowern. „Weil unsere Teams in der Klinik eng zusammenarbeiten, ist es oft sehr schwierig, Vorwürfe laut zu äußern und dennoch vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.“

In Oldenburg habe man gute Erfahrungen mit den internen Sicherungssystemen gemacht, sagt Tenzer: „Oft geht es dabei darum, dass das falsche Medikament im Töpfchen gelandet ist.“ Aber manchmal würden in der Folge auch komplette Strukturen umgekrempelt - etwa Abläufe der Notfallbehandlung.

Patienten können sich zudem schriftlich oder auch mündlich via Fürsprecher über ihre Behandlungen äußern - und dabei Missstände benennen. Kriminelle Energie und vorsätzliche Schädigungen lassen sich auch mit Whistleblower-Systemen nicht immer verhindern, aber zumindest öfter erkennbar machen.

Hier können laut Jürgensen zudem statistische Erfassungen von Komplikationen und Todesfällen als eine Art Frühwarnsystem helfen. Deshalb vergleicht die Charité ihre Ergebnisse transparent mit anderen Kliniken, die sich in der Initiative Qualitätsmedizin zusammengeschlossenen haben.