Interview Mutter des toten Christian kämpfte jahrelang für Loveparade-Prozess
Gabi Müller hat 2010 ihren Christian bei der Loveparade-Katastrophe verloren. Im Dezember beginnt der Strafprozess. Wie war das damals, was fühlt sie jetzt und was erhofft sie sich von dem späten Verfahren?
Frau Müller, als wir uns zuletzt sprachen, im April 2016, hatten Sie gerade eine Online-Petition gestartet. Mehr als 367 000 Unterstützer schlossen sich Ihrem Appell an, dass es doch noch ein Strafverfahren geben soll. Tatsächlich zwang ein Jahr später das Oberlandesgericht Düsseldorf das Landgericht Duisburg, ein Strafverfahren zu eröffnen. Glauben Sie, dass Ihre Petition dabei geholfen hat?
Gabi Müller: Ich denke schon. Natürlich handeln die Gerichte nach ihren Vorschriften. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass der öffentliche Druck ein kleines Bisschen dazu beigetragen hat. Richter sind ja auch nur Menschen. Und wenn die sehen, wie viele sich da engagieren, bleibt das bestimmt nicht ohne Wirkung.
Sie haben am 24. Juli 2010 Ihren Sohn verloren. War er Ihr einziges Kind?
Müller: Ja, Christian wurde 25. Er hatte eine Ausbildung gemacht und dann sein Abitur. Er wollte Ökotrophologie studieren. Eigentlich wollte er an dem Tag gar nicht mit zur Loveparade, weil er lernen musste. Dann ist er aber doch gefahren. Mit einer Gruppe von acht oder neun Freunden.
Und die anderen blieben alle unverletzt?
Müller: Ja, auch wenn sie mit in dem Gedränge waren. Das war furchtbar, die haben mir erzählt, wie sie da richtig in der Luft geschwebt sind, ohne Boden unter den Füßen. Das war die Hölle.
Wie haben Sie von Christians Tod erfahren?
Müller: Ein Freund von Christian, der Damian, der nicht mit war in Duisburg, wurde von den Freunden von dort aus angerufen. Er ist dann zu uns nach Hause gekommen und hat uns gesagt, dass Christian verstorben ist. Die Polizei kam erst gegen vier Uhr am Morgen und hat uns das offiziell mitgeteilt. Vorher haben wir noch gehofft, man will es einfach nicht glauben. Aber man spürt, dass es doch stimmt. Ich habe immer wieder versucht, auf Christians Handy anzurufen, aber dann war da nur die Mailbox. Ich weiß noch, dass ich dem Damian damals gesagt habe, das werde ich dir nie vergessen, dass du zu uns gekommen bist. Und da hat er gesagt, Frau Müller, wenn das einer von uns gewesen wäre, der Christian hätte das auch getan. Wir haben uns gesagt, das dürfen Christians Eltern nicht von fremden Leuten erfahren.
Konnte Ihr Umfeld mit der Tragödie umgehen, wurden Sie aufgefangen?
Müller: Ja, die sind alle auf uns zugekommen. Das hat geholfen. Das Schlimmste wäre das Gefühl, die gehen jetzt alle weg und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Auch ich habe mir gesagt: Du musst raus, unter die Leute. Je länger man sich isoliert, umso größer wird die Angst vor der Außenwelt. Ich habe bei der Arbeit gesagt: Geht mit mir um wie immer und behandelt mich normal.
Haben Sie immer noch Kontakt zu Christians Freunden?
Müller: Ja, wir haben gerade noch die Hochzeit von einem Freund mitgefeiert. Und seine Freunde besuchen Christian immer noch an seinem Grab hier bei uns in Hamm. Wenn sie in Urlaub fahren, bringen sie ihm immer eine Kleinigkeit mit und legen sie ans Grab. Ein bisschen Sand aus der Dominikanischen Republik, oder eine Muschel. Da ist schon eine richtige Urlaubsecke auf dem Grab. Ich hatte vor ein paar Tagen noch Kontakt mit einem von Christians Lehrern. Der hat mir gesagt, den Christian, den kann man gar nicht vergessen. Der hatte viel von Ihnen, mit seinem Gerechtigkeitsgefühl und so kämpferisch, wie er war.
Wie ist es in Ihrem Umfeld, haben die Menschen Verständnis, dass Sie so kämpfen für die Wahrheit? Erst mit der Petition und jetzt als Nebenklägerin in dem Strafprozess. Oder gibt es auch welche, die sagen: Lass es, was soll das noch helfen?
Müller; Ich wurde und werde da sehr bestärkt. Wenn mir das einer vor zehn Jahren erzählt hätte, als unsere Welt noch in Ordnung war, hätte ich mir das auch nicht gedacht, das alles mal durchzustehen. Die ersten Jahre konnten wir uns das gar nicht vorstellen, dass man selbst so aktiv werden muss. Als das Verfahren dann eingestellt werden sollte, da habe ich mir gesagt: Das kann ich nicht akzeptieren. Das kann es doch nicht gewesen sein. Den Tod von Christian muss ich akzeptieren, aber das, was da läuft, werde ich nicht akzeptieren. Da werde ich keine Ruhe geben. Das bin ich mir schuldig. Und das bin ich meinem Sohn schuldig. Ich möchte mir nicht einmal vorwerfen müssen, dass ich nicht alles versucht habe. Ich habe mit vielen Menschen zu tun, auch bei der Arbeit, da werde ich bestärkt.
Sie sind Friseurin. Ist das Thema bei Ihrer Kundschaft?
Müller; Ja, da kommt ganz viel Liebes, das bestärkt einen. Wenn die Kunden was im Radio zu dem Thema hören oder darüber in der Zeitung lesen, sprechen sie mich darauf an: Frau Müller, haben Sie dies und das schon mitgekriegt?
Ist für Sie Ihr Kampf um Gerechtigkeit auch so etwas wie eine Therapie?
Müller: Ich bin immer noch alle paar Monate bei der Therapeutin. Und die sagt jetzt auch im Zusammenhang mit dem Prozessbeginn: Das ist genau der richtige Weg, den Sie gehen. Sie sagt mir immer, ich bin ihre Vorzeigepatientin. Man muss den positiven Weg gehen, nicht den mit Alkohol oder Tabletten. Das führt ins Aus. Ich wollte nicht verbittert werden, aber trotzdem kämpfen und nicht die Wut und den Frust auslassen an Menschen, die nichts dafür können. So hoffe ich, damit irgendwann abschließen zu können.
Jetzt kommt es also am 8. Dezember, mehr als sieben Jahre nach der Katastrophe, endlich zum Strafprozess. Sitzen da die Richtigen auf der Anklagebank?
Müller: Das glaube ich schon, aber für mich fehlen da noch welche. Für mich fehlen auf der Anklagebank Herr Schaller, der Chef des Loveparade-Veranstalters, und auch Herr Sauerland, der frühere Oberbürgermeister von Duisburg.
Fehlen da auch Vertreter der Polizei auf der Anklagebank?
Müller: Ja, auch die Polizei hat nach meiner Meinung zu der Katastrophe beigetragen, weil die zu spät eingegriffen hat. Rechtzeitiges Eingreifen hätte bestimmt noch einiges verhindert. Ich spreche hier nicht von der Verantwortlichkeit der kleinen Beamten vor Ort. Es geht um die Leitung. Aber Herr Jäger, der damals Innenminister war, hat sich sofort schützend vor die Polizei gestellt. Noch bevor die Ermittlungen angefangen hatten.
Sie treten selbst als Nebenklägerin auf, gehen in die Öffentlichkeit.
Müller: Man glaubt, hier in Deutschland geht alles seinen Gang, da wird vernünftig ermittelt. Doch nach drei Jahren haben wir gemerkt, hier ist was nicht richtig. Da waren wir erschüttert, dass da auf einmal alle möglichen Beteiligten aus der Verantwortung gelassen wurden. Die haben noch nicht mal eine moralische Verantwortung übernommen. Man hätte sie mit anklagen können und darüber ein unabhängiges Gericht entscheiden lassen sollen. Die, die jetzt angeklagt sind, haben nicht die Alleinverantwortung. Sie haben jetzt die Möglichkeit, ihre Aussagen zu machen, für wen sie da den Kopf hinhalten.
Vor ein paar Tagen konnten die Prozessteilnehmer den reservierten riesigen Gerichtssaal in der Düsseldorfer Messe besichtigen, in dem das Landgericht Duisburg den Prozess wegen des großen öffentlichen Interesses führen wird. Waren Sie bei der Begehung dabei?
Müller: Ja, als ich da reinkam und mein Namensschild stand an meinem Platz und als ich die riesige Leinwand gesehen habe, auf der irgendwann die Filme über das Geschehen laufen werden — das war schon ein mulmiges Gefühl.
Werden Sie an jedem Prozesstag dabei sein?
Müller: Nein, erst mal nur am ersten Prozesstag am 8. Dezember. Und dann nach Absprache mit meinem Anwalt Dr. Julius Reiter. Man kann sich das gar nicht antun, dreimal die Woche. Und dann wird es Tage geben, an denen ich auf keinen Fall da sein will. Wenn auf der Großleinwand die Bilder von der Katastrophe zu sehen sind. Ich kenne einige Ausschnitte, das reicht mir. Aber für die Angeklagten ist das vielleicht ganz lehrreich, wenn sie sich das mal anschauen.
Was ist, wenn das Verfahren am Ende womöglich wegen Verjährung eingestellt wird?
Müller: Das wäre mit das Schlimmste, aber auch das muss ich dann akzeptieren. Doch selbst dann bliebe immerhin etwas hängen, der Prozess hätte weiter zur Klärung beigetragen. Das Geschehen kommt noch mal in die Öffentlichkeit. Und gerät nicht in Vergessenheit. Denn das muss die Lehre sein: dass sich so etwas nie wiederholen darf.