Pathos, Pomp und Popballaden beim ESC

Die Beiträge für das heutige Finale sind schwach wie nie — findet unser Autor. Er sieht einen tätowierten Norweger als Favoriten.

Foto: TOBIAS SCHWARZ

Kopenhagen. Nun hat es sogar Ralph Siegel ins Finale geschafft. Der deutsche Grand-Prix-Dinosaurier, dessen Bonbon-Pop in der wirklichen Welt längst ausgestorben ist, darf beim Eurovision Song Contest (ESC) seit Jahren zuverlässig für San Marino scheitern. Mit der schmerzensgeldpflichtigen Ballade „Maybe“ ist er am Samstag (21 Uhr, ARD) erstmals seit 2006 im Finale vertreten. Das sagt wenig über Siegel — und viel über seine Mitbewerber.

Foto: Jörg Carstensen

Das Teilnehmerfeld mit ursprünglich 37 Ländern — elf wurden in den Halbfinals aussortiert — ist schwach wie selten. Die meisten der 26 Songs sind aufgepumpte Pop-Hymnen mit penetrantem Disco-Beat oder Balladen der klebrigsten Sorte, die außer Pomp und Pathos nichts zu bieten haben. Beide Varianten reichen selbst beim ESC nicht für einen vorderen Platz.

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Wenn man schon das Leid des Universums besingt, dann bitte mit dem gewissen Etwas. Das kann ein dezenter Damenbart sein wie bei der österreichischen Drag-Queen Conchita Wurst (Foto) oder ein gekonnt inszeniertes Klanggewitter wie bei der Schwedin Sanna Nielsen. Ihre Ballade„Undo“ klingt verdächtig nach Céline Dion, doch anders als die Königin der Schmachtfetzen bleibt Nielsen nicht im Weltschmerz haften, sondern schraubt sich mit Verve zurück ins Licht. So klingen Siegertitel.

Foto: dpa

Die Buchmacher hingegen sahen lange Armenien vorne, was ebenso merkwürdig ist wie der Name des Sängers: Denn Aram Mp3 treibt in seinem Beitrag gelangweilt die immer gleichen Melodielinien vor sich her. Ein seltsam blasser Sieger wäre das — allerdings nicht der erste in der jüngeren ESC-Geschichte. 2011 in Düsseldorf gewannen Ell und Nikki mit der Schnarchnummer „Running Scared“, 2012 durfte Europas Schlagerelite zur Strafe nach Baku pilgern.

Doch vielleicht kommt ja alles ganz anders. Wie in jedem Jahr verstecken sich im Morast einige Perlen. Der Schweizer Sebalter sorgt mit seinem Ilse-Werner-Gedächtnispfeifen für wippende Füße, Emma Marrone rockt für Italien, als sei Gianni Nannini wieder voll im Saft, die Niederlande überraschen mit dem lässigen Countrysong „Calm After the Storm“, und Island macht Pollapönk: Ja, die Band heißt, wie sie klingt. Sie alle sind nicht stromlinienförmig genug, um vorn zu landen.

Das dürfte auch für den deutschen Beitrag gelten: Elaiza gehören mit „Is It Right?“ zwar zum musikalisch Besten. Doch der Sieg wäre eine Sensation — zumal Deutschland momentan nicht gerade auf dem Gipfel seiner Popularität steht. Politik spielt immer eine Rolle, da kann der ESC noch so sehr den Eindruck vermitteln, er finde auf einem fremden Planeten statt.

So wird die Nachrichtenlage auch die russischen Zwillinge Tolmachevy stoppen, die sonst mit der Pophymne „Shine“ Siegchancen gehabt hätten. Doch im Halbfinale wurden sie ausgebuht — was nicht den 17-jährigen Blondinchen galt, sondern Putin. Der Song der Ukraine heißt „Tick-tock“, aber das Ticken beschreibt nicht ein Land an der Schwelle zum Bürgerkrieg, sondern natürlich die Liebe.

In einem Jahrgang der plätschernden Sorte fehlen die Favoriten, die 2012 („Euphoria“) und 2013 („Only Teardrops“) schon im Vorfeld erkennbar waren. Die englischen Buchmacher, die zuletzt oft richtig lagen, sehen neben Frau Wurst, Armenien oder Schweden die Pop-Nummer „Running“ aus Ungarn oder eine gewisse Molly aus Großbritannien vorne. Für letzteres kann es nur patriotische Gründe geben.

Dies ist aber auch ein Jahrgang, in dem der Sieger am Ende alle überraschen könnte. Der tätowierte Türsteher und Ex-Soldat Carl Espen aus Norwegen, der im Halbfinale einen bärenstarken Auftritt hingelegt hat, beweist mit „Silent Storm“, dass ESC-Balladen nicht aus Klischees bestehen müssen. Sie dürfen Brüche und Widerhaken haben und sogar Gefühle wecken.