Prozess: Anklage im Klinik-Skandal - Patienten-Leid durch Profitgier
Verfahren um 7 Tote und 60 Körperverletzungen erneut vertagt.
Mönchengladbach. Im Prozess um den größten deutschen Klinik-Skandal hat sich die Anklage viel Mühe gegeben: Mehr als zweieinhalb Stunden - exakt 149 Minuten lang - verlasen die Staatsanwälte Lothar Gathen und Volker Brähler Donnerstag vor dem Landgericht Mönchengladbach die Anklageschrift gegen den Ex-Chefarzt der St.-Antonius-Klinik in Wegberg und fünf weitere Ärzte. Sie sollen für den Tod von sieben Patienten verantwortlich sein und mehr als 60 Körperverletzungen begangen haben.
Die Anklageschrift erwies sich als intensive Leidensgeschichte von 19 Patienten, eine Auflistung medizinischer Fehlentscheidungen und Fehldiagnosen, aber auch als deutlicher Hinweis auf medizinische Selbstüberschätzung und krasses Profitstreben.
Beispiel: Pier soll einen Patienten, der über Darmverengung klagte, nicht nur am Darm operiert haben, sondern ihm dabei auch - unnötig - Gallenblase und Blinddarm entfernt haben. Als es zu Komplikationen kam und ein Assistenzarzt dringend eine Dialyse (=Blutreinigungsverfahren) empfahl, soll Pier dies telefonisch abgelehnt haben mit dem Hinweis, der Patient sei Alkoholiker und eine Dialyse zu teuer. Der Patient starb kurz darauf.
Weiteres Beispiel: Einem Patienten, dem bei einem Arbeitsunfall ein Daumen abgetrennt worden war, soll Pier das Körperglied wieder angenäht haben - ohne die notwendige medizinische Kenntnis und Ausrüstung zu haben.
Die Folge: Es kam zu einer Nekrose (= Absterben lebenden Gewebes), der Daumen faulte gleichsam ab. "Der Patient hätte in einer Spezialklinik in Aachen, Eschweiler oder Duisburg operiert werden müssen", betonte Oberstaatsanwalt Lothar Gathen. "So aber hatte er keine Chance, den Daumen zu behalten."
Die Verteidigung von Pier hatte gleich zu Prozessbeginn vergeblich versucht, die Verlesung der Anklageschrift zu verhindern. Dies lehnte der Vorsitzende Richter Beckers jedoch ab. Das wiederum quittierten Piers Anwälte nach der Verlesung mit erneuten Befangenheitsanträgen gegen zwei Richter sowie die beiden Schöffen.
Die abenteuerlich anmutende Begründung: Durch die Verlesung der detaillierten Anklageschrift sei eine "irreparable Beeinflussung der Schöffen" eingetreten. Nun muss erneut eine andere Kammer über die Befangenheitsanträge beraten.
Für den Prozess sind 22 Verhandlungstage bis März 2010 veranschlagt. Experten gehen aber wegen der offensichtlichen Konflikt-Strategie der Verteidigung von einer wesentlich längeren Verfahrensdauer aus.