Rittlings über den Septimerpass - Zu Pferd den Römern auf der Spur
Bivio (dpa/tmn) - Ein Ritt in den Alpen war zur Zeit der alten Römer ungemütlich und gefährlich. Heute reisen Touristen zum Spaß auf uralten Pfaden im Sattel durchs Hochgebirge. Dank gemütlicher Gaststuben und Begleitautos halten sich die Strapazen in Grenzen.
Sorgfältig verschnürt die Reiterin das Regencape am Sattel. „Das sollte bei einem längeren Ritt in den Bergen schon dabei sein“, sagt Genny Torriani, schmunzelt und schaut zum sommerlichen Himmel. Noch ahnt die Gruppe nicht, wie wertvoll dieser Hinweis ist. Gennys Reitstall Solaria steht mitten im historischen Teil von Bivio. Der Ort liegt auf 1769 Höhenmetern in Graubünden im Südosten der Schweiz. Unter den frisch beschlagenen Hufen schallt das Pflaster in der Dorfgasse, als die Reitergruppe in Richtung Septimerpass aufbricht.
„Unser Ritt führt uns auf die Via Sett, die alte Römerstraße. Lange zählte sie zu den wichtigsten Alpenübergängen“, erklärt Genny. Seit über 2000 Jahren sind Menschen auf dieser Strecke unterwegs. Selbst Kaiser und Könige ritten über die Via Sett. Archäologische Spuren belegen, dass die Römer hier mit Wagen und viel Material entlangkamen. Am Septimerpass hatten sie ein Heerlager, dessen Überreste erst 2008 entdeckt wurden.
Mitten durch das Cavreccia Tal trotten die Pferde mit ihren Reitern am Bach Julia entlang. Langsam steigt die Strecke an. Im breiten Tal galoppieren die Tiere noch ab und zu, beim Anstieg auf den Pass dal Set, wie der Septimerpass auf Rätoromanisch heißt, geht es nur noch im Schritt. Routiniert arbeiten sich die Pferde auf eine Passhöhe von 2310 Metern über dem Meeresspiegel vor. Sie sind an die Gebirgshöhe gut angepasst. Außer Atem kommt hier nur der Flachlandreiter.
Es beginnt zu regnen. Schnell sind die Reithandschuhe und die Schuhe durchweicht. Die Füße werden kalt. Auch das gehört zum Reisen zu Pferd dazu. Die warmen Körper der Tiere dampfen. Die Luft riecht nach Feuchtigkeit. Wie Nebelschwaden hängen die Wolken zwischen den Bergen - eine mystische Atmosphäre.
Menschen, die in den Bergen leben, beeindruckt das Wetter wenig. „Schlimm wird es eigentlich erst, wenn es am Pass schneit“, meint Genny ungerührt. Die 59-Jährige kommt ursprünglich aus Großbritannien. Als junges Mädchen verschlug es sie in die Alpen, wo sie später einen Schweizer italienischer Abstammung heiratete.
Der Abstieg auf der anderen Seite des Passes bedeutet auch für die Reiter selbst: absteigen. Auf dem steilen Römerweg führen sie ihre Pferde am Zügel hinunter. Die historische Passstraße führt ins Val Maroz nach Casaccia auf 1458 Metern über dem Meer. Wieder angekommen in der Welt der Autostraßen, bringt ein Begleitfahrzeug dem Reitertross das Picknick. So einen Service hatten die Kaufleute aus dem Norden nicht, die im Mittelalter nach Italien zogen.
Auch sie kamen dabei durch das Schweizer Tal Bergell, wo es deutlich wärmer ist und die Landschaft schon südlicher anmutet. Und fast wie die Reisenden in alten Zeiten übernachten auch die Reiter in einem typischen Bergeller Haus im Dorf Bondo unweit vom bekannteren Soglio: meterdicke Wände, Steinfußboden in der Küche und Speisen in der getäfelten Stube, dazu Wein aus dem eigenen Keller.
Am nächsten Tag leitet Genny die Reitergruppe durch die engen Gassen der Dörfer des Bergells. Da stehen italienisch wirkende Palazzi neben Bürgerhäusern, Heustadel neben Bauerngärten mitten im Ort. Die abseits gebaute Landstraße schützt viele historische Orte im Bergell vor zu viel Autoverkehr. So können die Pferde in Ruhe am alten Dorfbrunnen trinken und die Reiter währenddessen die Hausdächer mit den bemoosten Steinschindeln bewundern.
Wie Überbleibsel stehen ein Stück weiter in einer Lichtung im Wald von Cudin zwei Galgensäulen aus Stein. Auf dem früheren Hinrichtungsplatz kauen die Pferde ein paar Grashalme. Die Stimmung ist friedlich und der Platz idyllisch - dort, wo einst Verbrecher und vermeintliche Hexen starben. 1795 war die letzte Hinrichtung. Enthauptet wurden zwei Brüder im Alter von 20 und 23 Jahren. Sie hatten Pferde gestohlen.
Auf dem Weg zurück nach Bivio geht es wieder den Septimerpass hinauf. Die südliche Seite ist steiler, die Pferde atmen schwer. Dazu wird es in der Sonne immer wärmer. Der Regenumhang bleibt am Sattel festgezurrt, und Genny kramt eine dunkle Brille aus der Satteltasche. Als wäre der Septimerpass nun ein anderer Ort als am Tag zuvor, präsentiert sich bei hellem Licht die Berglandschaft mit den Gipfeln von Roccavela, Piz Grevasalvas und Piz Turba in ihrer ganzen Weite. Die Gruppe macht noch einen Abstecher zum nahen Lunghinpass, wo sich eine dreifache Wasserscheide befindet. Regentropfen fließen von dort entweder in die Nordsee, ins Schwarze Meer oder in die Adria - und verbinden den Hochgebirgspunkt so mit der Welt.