Pilgerreise Rumis Seele lebt und tanzt im Herzen der Türkei
Konya (dpa) - Menschen ziehen in einer Prozession vorüber. Manche weinen, andere beten. Einige fallen auf die Knie. Im Hintergrund ruft ein Mann immer wieder „Allah“ - wie in Trance. Auf der Spitze des Mausoleums verweist ein türkisfarbener Turban auf den hohen sozialen Status des Beerdigten.
An diesem Ort soll Dschelaleddin Rumi zuletzt gelebt haben. Der islamische Mystiker und Dichter aus dem 13. Jahrhundert starb im Jahr 1273 hier in Konya im anatolischen Landesinneren, das damals noch Teil des Seldschuken-Reichs der türkisch-persischen Dynastie war. Tausende Menschen pilgern zu jeder Jahreszeit an Rumis Grab. Es liegt im Inneren einer Hütte, in der Derwische - die Mitglieder der Ordensgemeinschaft - früher schon ihre Tänze aufführten. Den Pilgern fällt es oft schwer, die Gründe für ihren Besuch zu nennen.
„Er hat etwas, das von Herzen kommt. Solche Dinge, die von Herzen kommen, sind schwer zu erklären“, sagt Ruhsar Tunaboylu, der mit seiner Mutter aus Istanbul gekommen ist. Die beiden unternehmen die Reise fast jedes Jahr. Die Mutter sagt: „Für mich steht er für Frieden, Liebe und Toleranz.“
Für andere Pilger war die Reise aufwendiger. Michael Junayd flog aus Vancouver (Kanada) hier her. Er hat sich in eine Ecke mit Blick auf die beeindruckende Gedenkstätte zurückgezogen. Von dort aus beobachtet er, wie Türken, Iraner, Libyer, Syrer und andere vorüberziehen. „Es hat 20 Jahre gedauert, hier her zu kommen. Das ist meine Wallfahrt. Ich glaube nicht, dass ich eine zweite Chance bekommen werden.“
Aus spiritueller Sicht hat sich die Erfahrung für ihn schon gelohnt. „Meine Gebete sind viel intensiver, seit ich hier bin.“ Anders als die meisten Besucher sieht er sich nicht als Muslim, sondern als Anhänger Mevlanas, dem geläufigem Namen Rumis.
Der Rumi-Kult hat sich über Jahrhunderte entwickelt - im Osten und im Westen. Für die einen ist Rumi eine muslimisch-spirituelle Figur, für die anderen ein säkularer Schriftsteller, der Einblicke in gebrochene Herzen gibt.
„Die Wunde ist der Ort, an dem das Licht in dich eintritt“ - diese Zeile aus einem Rumi-Gedicht, die oft in sozialen Medien gebraucht wird, hat sich von seinem ursprünglichen Bezug zu Gott gelöst. Wie ein Echo hallt sie durch die Jahrhunderte und über die Ozeane hinweg. Auch der Songwriter Leonard Cohen, der 2016 starb, hat sie 1992 in seinem Lied „Anthem“ verarbeitet - ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt: „There is a crack in everything, that's how the light gets in.“ („Durch alles geht ein Riss, so fällt das Licht hinein.“)
Für Mustafa Atatürk, den Gründer der modernen Türkei und überzeugten Säkularisten, war der Rumi-Kult zu viel. 1925 wurden die von Rumi inspirierten sufistischen Gemeinschaften verboten. In den vergangenen Jahrzehnten erfuhren sie jedoch, auch wegen ihres touristischen Reizes, ein Comeback. Die wirbelnden Derwische sind zum unverzichtbaren Element türkischer Werbung geworden. Die Regierung fördert Symposien und sogar Semas, jene Zeremonien, bei denen die Derwische singen, musizieren und tanzen. Die andächtigen Lieder sind häufig aus dem Koran oder aus den Schriften Rumis.
Religiöse Musik ist beliebt in der Türkei. Radiosender in Konya spielen die Lieder, Busfahrer drehen sie für die Reisenden auf. Die Tourismusbranche in der Türkei wurde im vergangenen Jahr allerdings hart getroffen von Bombenattentaten und einem wirtschaftlichen Abschwung. Auch nach Konya kamen im Dezember weniger Besucher zu den Ritualen rund um Rumis Todestag. Doch die Tradition hat schon zwei Reiche, unzählige Kriege und Atatürks Säkularisierungsbemühungen überdauert. Die Chancen stehen gut, dass sie fortbesteht.