SPD-Basis rebelliert gegen Flüchtlingspolitik

Mit einem Demonstrations-Aufruf gegen weitere Flüchtlings-Unterkünfte haben Ortsvereine in Essen die Parteispitze gegen sich aufgebracht. Ministerpräsidentin Kraft reagiert mit einem Machtwort.

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Essen/Düsseldorf. Um 18.35 Uhr platzte Hannelore Kraft am Samstag der Kragen. In vier aufeinander folgenden Twitter-Nachrichten sprach die Vorsitzende der nordrhein-westfälischen SPD ein Machtwort: „Die NRW-SPD steht für eine offene und vielfältige Gesellschaft und eine Willkommenskultur für Flüchtlinge. Protestaktionen, die das in Frage stellen könnten, lehnen wir entschieden ab. Das schadet dem Ansehen der SPD insgesamt. Wenn es Probleme mit der Verteilung der Flüchtlinge in Essen gibt, muss das im Rat der Stadt diskutiert & entschieden werden. Hier ist der Oberbürgermeister gefordert“, so die Ministerpräsidentin. Und der heißt Thomas Kufen (CDU).

Weil der Christdemokrat aus Sicht der SPD-Ortsvereine im Essener Norden seinen Zusagen nicht nachkommt, in ihren Bezirken keine weiteren Flüchtlingsunterkünfte zu errichten, riefen die Genossinnen und Genossen für Montag zu einem „Lichtermarsch“ auf. Überschrift des Aufrufs: „Genug ist genug, Integration hat Grenzen, der Norden ist voll.“

Nachdem der Aufruf Facebook erreichte, gab es bundesweit kein Halten mehr. Als die Online-Redaktionen von „Spiegel“, „Welt“, „Bild“ und „FAZ“ auf das Thema ansprangen, griff Hannelore Kraft zu Twitter. Der Vorgang ist für die NRW-SPD einigermaßen peinlich, weil er seit Wochen schwelt und sich nicht mit der Autorität der Parteiführung aus der Welt schaffen ließ.

Vorsitzende der Essener SPD ist die Landtagsabgeordnete Britta Altenkamp, die zugleich Vize-Vorsitzende der Landespartei, Vize-Vorsitzende der Landtagsfraktion und Chefin der Arbeiterwohlfahrt (Awo) Niederrhein ist. Am 11. Januar scheiterte Altenkamp mit dem Versuch, den Anführer der unbotmäßigen Ortsvereins-Proteste nach klassischer Manier der alten Steinkohle-SPD per Vorstandsbeschluss zu rügen und zum Schweigen zu bringen. Wie die „WAZ“ berichtet, musste Altenkamp eine bereits vorgefertigte Pressemitteilung zurückziehen. Stattdessen sollen sich etliche Genossen an die Seite des Karnaper SPD-Ratsherrn Guido Reil gestellt haben. Der hatte am 8. Januar in einem Interview mit der Essener „WAZ“-Ausgabe offen erklärt, wie es im Stadtteil zugeht.

Rund 400 Flüchtlinge sind inzwischen in einer Zeltstadt im traditionsreichen Stadion „Mathias Stinnes“ untergebracht, bis zu 700 könnten es werden. Ein historischer Ort: Im alten Stadion wurde 1956 trotz des Frauenfußball-Verbots des DFB das erste Länderspiel einer deutschen Frauenfußballnationalmannschaft ausgetragen (2:1 gegen die Niederlande, 18 000 Zuschauer). Die TSG Karnap 07 war einst der zweitgrößte Fußballverein der Stadt nach Rot-Weiß Essen. Reil (46) ist Bergmann auf der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop. Es ist das letzte aktive Steinkohlen-Bergwerk im Pott. Sein Großvater war Sozialdemokrat, sein Vater auch.

Bergmänner wie Reil sehen ihrem Gegenüber in die Augen und reden keinen Krawattenträger-Quatsch. In ihren Stadtteilen hat die Politik die gescheiterte Integration der vergangenen Jahrzehnte abgeladen. Als ehrenamtlicher Richter hat Reil etliche Prozesse mitgemacht, in denen libanesische Einwanderer ihn haben wissen lassen, wie wenig Respekt sie vor der deutschen Gesellschaft und ihrer Justiz haben. „Was sie da über die Mentalität lernen, wie sehr die uns und dieses Land verachten und uns auslachen, unsere Sozialgesetze ausnutzen, das ist haarsträubend“, hat Reil der „WAZ“ gesagt.

Als die Pläne für die Zeltstadt im vergangenen Oktober öffentlich wurden, verlangte der Karnaper SPD-Ortsvereinsvorsitzende Stephan Duda mehr Sicherheit für den Stadtteil. Im November konnten Anwohner das karge Zeltdorf besichtigen. Die Stadt Essen hat in der Flüchtlingsbetreuung gute Erfahrungen mit „Runden Tischen“ in den Stadtteilen, so auch in Karnap.

Aber im Essener Norden droht die Stimmung zu kippen. Am 5. Januar gingen Flüchtlinge aus der Zeltstadt im Stadion „Mathias Stinnes“ auf die Straße und demonstrierten. Sie beschwerten sich, dass sich niemand um sie kümmere. Dass sie keine Wohnungen bekämen, sondern es bis zu einem Jahr dauern könne, bis sie die Unterkunft verlassen dürften. Die Kinder wollten endlich in die Schule. So hätten sie sich Deutschland nicht vorgestellt. Das kam bei den Karnapern nicht gut an. Sie sind die nächtlichen Ruhestörungen und den Müll leid. Die Flüchtlinge ihrerseits fühlen sich nicht sicher. Es gebe ständig Kämpfe und Drogenhandel in der Zeltstadt, klagten sie.

Das lässt sich alles nicht mit dem hilflosen Versuch erledigen, einen Ratsherrn aus den hinteren Reihen der Partei mundtot zu machen. Nach dem gescheiterten Versuch veröffentlichte Parteichefin Altenkamp mit dem Essener Ratsfraktions-Vorsitzenden Rainer Marschan am 12. Januar eine persönliche Erklärung: „Nach einem Gespräch mit dem Ratsherrn über dessen Beweggründe, dieses Interview — unabgestimmt mit Fraktions- und Parteigremien — zu führen, stellen die Essener SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden fest, dass die Aussagen von Guido Reil nicht deren Haltung widerspiegeln.“ Mit dieser Haltung verhärtete Altenkamp lediglich die Positionen der Ortsvereine im Essener Norden. Stur sein kann die Basis besser als ihre Spitze.

Am 22. Januar veröffentlichte der Vorsitzende des Ortsvereins Altenessen, Jürgen Garnitz, den Aufruf zum Lichtermarsch und begründete die Aktion: Der Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund betrage im Norden mehr als 40 Prozent. „Mit dem Zuzug weiterer Migranten in die geplanten Massenunterkünfte sind die Menschen vor Ort nicht mehr bereit und in der Lage, weitere Integrationsleistungen zu schultern. Eine weitere Erhöhung des Migrantenanteils wird auch die bisherigen beachtlichen Leistungen bei der Integration im Bezirk V gefährden, die freiwilligen Helfer demotivieren und überfordern, was zwangsläufig dazu führt, dass viele ihr Engagement beenden werden“, so Garnitz.

70 Prozent der Flüchtlinge, die Essen bisher aufgenommen hat, sind in den ärmeren Stadtteilen im Norden untergebracht worden. Die SPD wäre gut beraten, ihrem Genossen Guido Reil zuzuhören statt sich zu blamieren. Karnaps Ortsvereins-Chef Stephan Duda hat die geplante Demonstration am Sonntag abgesagt. Nicht, weil sie sich erledigt hätte, sondern weil er fürchtet, dass AfD und NPD sie als Plattform kapern. Mit solchen Leuten machen Karnaper und Altenessener Sozialdemokraten keine gemeinsame Sache. Wie kann seine Partei daran nur zweifeln?