Stricken? Tut einfach gut!

Die Arbeit mit Wolle und Nadeln erfordert Geduld und Ausdauer. Sie entspannt und lässt den Gedanken freien Lauf. Von der heilsamen Wirkung des Handgemachten.

Düsseldorf. Ihr Tag beginnt mit — stricken. Wenn Susanne Jeske früh um halb sechs im Bus zur Arbeit fährt, klappern bereits die Nadeln zwischen ihren Fingern. „Zwei Zentimeter wächst der Strumpf auf jedem Weg.“

Sie strickt an der Haltestelle, beim Arzt im Wartezimmer, in der Mittagspause, auf Autofahrten. „Die ganze ansonsten tote Zeit.“ 260 Paar Socken sind so seit 2006 entstanden, rund 16 Stunden stecken in einem Paar.

„Menschen mit warmen Füßen sind glücklich und ausgeglichen“, meint Susanne Jeske. Und beglückt nicht nur sich selbst mit ihrer Handarbeit, sondern auch gern die Menschen in ihrer Umgebung. Dabei entspannt sie sich, kann loslassen.

Mit ihrer Leidenschaft liegt die 48-Jährige aus Bergisch Gladbach im Trend. Wenn auch nicht ganz in der am stärksten wachsenden Altersgruppe: „Das sind junge Menschen so ab vierzehn, fünfzehn Jahren“, sagt Angela Probst-Bajak von der „Initiative Handarbeit“.

Lange Jahre galten Großmutters Maschen als Schrecken unterm Weihnachtsbaum, als Überbleibsel einer vergangenen Epoche, für das im Zeitalter industrieller Massenproduktion kein Platz mehr war. Jetzt arbeiten ausgerechnet ihre Enkel der Generation Web 2.0 an einer Reanimation von Omas Künsten. Warum? Probst-Bajak nennt die Abgrenzung vom Mainstream als Grund, den Wunsch nach Individualität. Und die Sehnsucht nach kreativer Betätigung und sinnlichen Erfahrungen fernab der virtuellen Räume.

Jedes Jahr wächst der Umsatz im Markt der Handstrickgarne (sprich: Wolle) um rund zehn Prozent, hat die „Initiative Handarbeit“ ermittelt. Die globale Strickgemeinschaft wird immer größer. In diversen Internet-Foren berät sie sich über Muster und die Wahl des passenden Garns. Das Portal www. ravelry.com (ravel=Knäuel) hat mehr als eine Million Mitglieder, und www.stricknetz.net zählte seit seiner Gründung vor zehn Jahren 2,5 Millionen Klicks. Die Angebote um Nadel und Faden boomen in Volkshochschulen und Wollläden. Strickcafés bereichern die Gastronomie.

Prominenz sorgt bei der Fleißarbeit für den Glamour-Faktor. Wer möchte, kann zum Beispiel bei Magdalena Neuner lernen, wie er sich Mütze, Schal und Stulpen zusammennadelt. Die überaus erfolgreiche Biathletin aus Oberbayern kehrte dem Leistungssport vor einigen Monaten den Rücken, um zur Normalität zurückzufinden. Dabei wird ihr das Stricken helfen. Sie lernte es übrigens mit acht Jahren von ihrer Mutter.

„Beim Stricken kann man sehr gut abschalten und einfach mal die Zeit vergessen. Ich brauche immer mehrere Beschäftigungen gleichzeitig, daher stricke ich auch gern beim Fernsehen. Einfach nur dasitzen ist mir zu langweilig“, schreibt Neuner auf ihren Strickseiten www.magdalena-strickt.de.

„Für viele ist Stricken eine Art Meditationshilfe“, erklärt Karl Strünkelnberg von der Deutschen Gesellschaft für therapeutische Hypnose. Er weiß von einer Frau, die bei Zuständen von Überreiztheit und Nervosität ein Bahnticket löst und irgendwo hin fährt, um mit ungeteilter Hingabe zu stricken. „Wenn sie dann nach Hause kommt, fühlt sie sich entspannt und ausgeglichen.“

Auch Betsan Corkhill betont die In-sich-gehenden Aspekte des Strickens, „die vermutlich von dessen beidseitigen, rhythmischen und automatischen Bewegungen herrühren“. Die englische Therapeutin bringt ihre Patienten bereits seit einigen Jahren an die Nadel und berichtet etwa von der Linderung von Schmerzen oder der Stärkung des Selbstwertgefühls. Eine depressive Frau schrieb ihr: „Stricken ist für mich ein sicherer Ort. Es hilft mir, gesund zu werden.“

An der Universität von Cardiff beschäftigt man sich mit dem Thema „Stricken und Gedächtnis“. Erste Ergebnisse: Die Betätigung taugt nicht unbedingt zum besseren Einprägen neuer Wörter. „Doch die Probanden konnten sich während des Strickens deutlich besser an bereits Erlerntes erinnern“, sagt Corkhill. Es hilft also weniger beim Lernen als vielmehr beim Abrufen von Wissen. Was nicht bedeutet, dass Examenskandidaten bei der Prüfung entspannt stricken sollten. Aber wer es zu Hause etwa beim Vokabelabfragen tut, wird mehr Treffer landen als sonst — und mehr Wörterpaare im Langzeitgedächtnis abspeichern.

Nebenwirkungen sind beim Stricken nicht zu befürchten, auch wenn passionierte Anwender sich augenzwinkernd als „nadelsüchtig“ bezeichnen. Schade ist jedoch, dass die positiven Effekte praktisch an jedem Zweiten vorbeigehen — denn es stricken vor allem Frauen. Ein historisches Missverständnis. „Ursprünglich war es eine männliche Beschäftigung“, erklärt Corkhill, „vermutlich wurde es einst von Fischern erfunden, um die Netze zu knüpfen.“

Aber man bekomme schon den ein oder anderen zum Stricken, verrät die Therapeutin. Wie? „Indem man den konkreten Nutzen für die Gesundheit betont.“ Vorausgesetzt, er darf in einer reinen Männergruppe ans Knäuel. „Denn beim gemeinsamen Stricken entsteht schnell eine vertrauliche Gesprächstiefe, die man nur ungern mit dem anderen Geschlecht teilt.“