Studie: Pillensucht ist meist weiblich
Kassen nehmen die Psyche der Deutschen unter die Lupe. Ergebnis: Frauen haben eine viel höhere Tendenz zur Sucht.
Berlin. Fragwürdige Verordnungen starker Medikamente machen Frauen weit häufiger süchtig als Männer. Das geht aus dem neuen Arzneimittelreport 2012 der Krankenkasse Barmer GEK hervor. Vor allem Tablettensucht sei bei Patientinnen weiter verbreitet, berichten die Autoren. „Wir werden mit den Ärzten reden müssen“, sagte der Vize-Chef von Deutschlands größter Kasse, Rolf-Ulrich Schlenker.
Frauen erhalten laut Report zwei- bis dreimal mehr Psychopharmaka als Männer. Männer bekämen dafür öfter Herz-Kreislauf-Mittel. „Nur die Hälfte der Frauen, die Antidepressiva bekommen, haben auch eine entsprechende Diagnose“, sagte der Autor der Studie, Gerd Glaeske.
„Frauen scheinen häufiger an ihrer Psyche zu leiden, Männer an ihrem Körper“, so der Bremer Gesundheitsforscher. Doch in den Praxen berichteten Patientinnen zunächst einmal nur öfter als Männer von Lebensproblemen. „Immer da, wo Frauen eine Hilfestellung erwarten, wird in der Medizin häufig mit Arzneimitteln reagiert.“
Oft begännen weibliche Karrieren der Medikamentensucht im Alter zwischen 45 und 50 Jahren, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Im Laufe der Jahre ließen sich auch gesetzlich versicherte Patientinnen die umstrittenen Mittel auf Privatrezept verordnen. So kämen bis zu 60 Prozent der Präparate zu den Patienten.
Bei jüngeren Varianten von Antidepressiva wie Prozac, die auch aktivierend wirken, sind die Unterschiede zwischen Frauen und Männern laut Report besonders bei langer Einnahme deutlich. In rund 35 Prozent aller Fälle erhielten Frauen solche Mittel länger als ein halbes Jahr.
Bei den Männern liege dieser Anteil nur bei gut 20 Prozent. Auch Tranquilizer bekämen Frauen im Schnitt länger. Die Gefahr einer Abhängigkeit steige hier bei einer Einnahme von zwei bis drei Monaten deutlich an, warnte Glaeske. Zwei Drittel der Medikamentenabhängigen seien Frauen.
Auch insgesamt lägen Frauen bei den Verschreibungen vorne. Auf 100 Frauen entfielen im vergangenen Jahr im Schnitt 937 Verordnungen. Damit lagen sie 22,3 Prozent über den Männern mit 763 Verordnungen. Frauen würden auch häufig Betablocker gegen Migräne verschrieben, obwohl diese bei ihnen oft mehr Nebenwirkungen hätten. Insgesamt liegen Frauen bei den häufigen Arztbesuchen laut Report vorn.
Glaeske forderte eine Liste von Medikamenten, die Ärzte über Mittel informiert, die für Frauen riskant sind. Schlenker mahnte weitere Untersuchungen an. „Die klinische Forschung muss frauenspezifischer sein.“ Die Grünen-Gesundheitspolitikerin Birgitt Bender forderte, dass bei der Zulassung von Arzneimitteln stärker auf Unterschiede bei Frauen und Männern geachtet wird.
Parallel hat auch die Techniker Krankenkasse eine Studie vorgelegt. Deren Kern: Berufspendler in Deutschland sind häufiger aufgrund einer psychischen Diagnose krankgeschrieben als andere Beschäftigte. Während Pendler, zu denen etwa 45 Prozent der Beschäftigten zählen, demnach im Schnitt 2,2 Tage im Jahr wegen Depressionen oder Belastungsstörungen krankgeschrieben sind, waren dies bei den anderen Beschäftigten 1,9 Fehltage pro Kopf.
Insgesamt seien Pendler mit 12,7 Tagen im Jahr jedoch etwas weniger krankgeschrieben als wohnortnah arbeitende Erwerbstätige — bei diesen liege der Schnitt bei 12,9 Tagen. Insgesamt sind die psychisch bedingten Fehlzeiten erneut gestiegen — um 6,3 Prozent.