Silvesternacht Übergriffe gegen Frauen sind eine globale Herausforderung
Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor warnt vor gefährlichen Spekulationen und fordert endlich Sicherheit für Frauen.
Köln. Nach den Übergriffen in der Silvesternacht am Kölner Bahnhof hat Lamya Kaddar Angst. Die Islamwissenschaftlerin und Buchautorin ist viel mit der Bahn unterwegs — zu Vorträgen und Lesungen. „Natürlich ist mir mulmig, zumal als Frau. Man stelle sich nur mal vor, eine Horde Männer baut sich vor einem auf und bedroht einen.“ Gerade das soll in in Köln vielfach geschehen sein. Bis Mittwoch waren bei der Kölner Polizei über hundert Anzeigen eingegangen. An die tausend, aus dem arabisch- und nordafrikanischen Raum stammende Männer sollen systematisch Frauen umzingelt, sexuell belästigt und beraubt haben.
"Wenn das zutrifft und das kein Einzelfall ist, dann könnte einem angst und bange werden“, meint die Religionspädagogin und warnt zugleich vor voreiligen Schlüssen: „Wir wissen noch viel zu wenig.“ Lamya Kaddor treibt die Sorge um, dass die unklare Faktenlage der Silvesternacht mit Vorurteilen wie einer immer wieder unterstellten Integrationsunwilligkeit der Migranten („Schwachsinn“) verknüpft und politisch instrumentalisiert wird.
Auch das, den mutmaßlichen Tätern unterstellte, patriarchalische Frauenbild sieht Kaddor differenzierter. Die Geschlechterbalance in der Gesellschaft sei nicht nur in islamischen Gesellschaften im Ungleichgewicht. Auch in indischen und südamerikanischen und der aufgeklärten deutschen Gesellschaft gebe es Übergriffe gegen Frauen. Man denke nur an Karneval oder das Oktoberfest. „Das ist eine globale, keine speziell muslimische Herausforderung.“
Ihr Fazit: „ Wir sollten nicht jeder Forderung von der rechten Seite nachgeben. Da entsteht eine unheimliche Spekulationsblase, die die Debatte gegen Flüchtlinge und für Islamfeindlichkeit fördern soll.“
Lamya Kaddor fordert Aufklärung und Konsequenzen: Zunächst müsse man rasch herausfinden, was wirklich passiert sei: “Es wurden doch Tatverdächtige festgenommen, warum hört man nichts?“ Dann müsse endlich die Sicherheit der Frauen, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit im öffentlichen Raum, sichergestellt werden, nicht durch mehr Videoüberwachung, die richtige Kleidung oder den möglichst armlangen Abstand zu anderen ( wie ihn Oberbürgermeisterin Henriette Reker empfohlen hat). Mehr Polizeipräsenz sei dagegen ein richtiger Ansatz — freilich nicht nur während der Karnevalstage.
Vor allem aber setzt sich Lamya Kaddor für eine grundsätzliche Debatte in der Gesellschaft ein. Über den Schutz der Frauen und über das Männlichkeits- und das Frauenbild — beides möglichst unabhängig von den Vorfällen in Köln. Doch sie ist skeptisch, was die Bereitschaft zu dieser mühsamen Auseinandersetzung angeht: Derlei Themen seien in der Gesellschaft „tabuisiert, derlei Probleme existieren bei uns (offiziell) nicht“.