Ulrich Tukur: „Das Böse steckt in jedem von uns“
Interview: Der Schauspieler Ulrich Tukur zeigt mit einer neuen CD seine musikalische Seite. Im Gespräch erklärt er seine Vorliebe für dunkle Rollen.
Herr Tukur, für Ihr neues Album "Mezzanotte" haben Sie Schellack-Schätzchen ausgegraben. Weshalb lagen Ihnen diese fast vergessenen "Lieder der Nacht" so am Herzen?
Ulrich Tukur: Weil ich den wunderschönen alten Liedern, Songs und Chansons noch mal Gehör verschaffen wollte. Zudem bekam ich von der Deutschen Grammophon, der altehrwürdigen Firma, das Angebot, meine Idee umzusetzen. Mit dem Pianisten Lutz Krajenski habe ich einen modernen Arrangeur gefunden.
Auch als Schauspieler scheinen Sie sich keine Pause zu gönnen. Was ist der Grund für Ihre Rastlosigkeit?
Tukur: Auch ich kenne Bequemlichkeiten, die mich nerven, und ich verzettle mich oft. Aber weil ich weiß, wie schnell die Zeit dahin geht und wie leicht die wertvollen Dinge in Vergessenheit geraten, versuche ich, Geschichte am Leben zu halten und Traditionen zu bewahren.
Sie spielen oft Charismatiker, die andere für ihre Zwecke ausnutzen - wie den Anlagebetrüger Dieter Glanz in "Gier" oder den NS-Journalisten Willem Sassen in "Eichmanns Ende". Was fasziniert Sie an diesen Menschenfängern?
Tukur: Ihre Schizophrenie. Die schlüpfen in eine Rolle rein, spielen die perfekt, und wenn sie die Menschen ausgeweidet haben, machen sie die Türe zu und haben schon alles vergessen. Und ihre Zeitlosigkeit. Auf sogenannte Hochstapler fallen die Menschen immer wieder rein. Ob das religiöse Heilsversprecher sind, Finanzhaie oder solche Rattenfänger wie Hitler.
Wie funktioniert deren Masche?
Tukur: Mit großer Überzeugungskraft und zündenden Auftritten. Wenn die den Leuten auf charmante mitreißende Art und Weise das Paradies versprechen, dann will fast jeder daran glauben. Gerade in Krisenzeiten sind immer diese Typen da, die einen archaischen Ausweg verheißen. Oft glauben diese Verführer sogar selbst an das, was sie da gerade verbreiten. Doch die schnelle Lösung gibt es nie.
Sondern?
Tukur: Es braucht immer langsame, evolutionäre Schritte, Substanz und Tradition. Ohne Tiefe lässt sich keine Veränderung durchführen. Wir glauben, wir können Italienisch im Crashkurs lernen, Klavier in zehn Tagen. Oder die Werbung verspricht uns den Waschbrettbauch in einer Woche. Das ist alles Quatsch. Aber Menschen wollen das gern glauben, das war schon immer so.
Was denken Sie, warum Menschen so leicht manipulierbar sind?
Tukur: Vielleicht weil die meisten Menschen wenig Halt haben und nach Führung suchen. Und wenn die Menschen aus wirtschaftlichen Gründen anfangen zu schwimmen, dann haben jene Menschenfänger leichtes Spiel. Auch jetzt, in diesem heißlaufenden kapitalistischen System. Doch hinter jedem Heilsversprecher steckt auch nur ein Mensch, der sein trübes Süppchen kocht.
Man muss gut aufpassen: Die dünne Schale der Zivilisation kann sehr leicht brechen. Auch die Grenze zwischen Gut und Böse ist schmal, wie Sie in Ihren Rollen immer wieder zeigen...
Tukur: Sehr schmal sogar. Deshalb ist es mir wichtig, keine Monster, sondern Menschen darzustellen. Selbst Hitler war kein Teufel, sondern ein Mensch. Das ist eine fürchterlich bedrückende Einsicht: Das Gute und Böse existiert in jedem von uns. Das ist ein riesiges Durcheinander. Warm kann es nur dort sein, wo es auch Kälte gibt.