Urs Widmer: Ein Wortzauberer will aufhören
Urs Widmer wird am Dienstag 75 Jahre alt. Die Autobiografie des Schweizers erscheint im August — sein letztes Buch?
Zürich. „Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiografie.“ So beginnt die Autobiografie von Urs Widmer. Ist er bei Trost? War es je? Anfänger unter den Lesern des Schweizers fragen sich das gelegentlich. Fortgeschrittene hingegen genießen seine Fabulierkunst, seine Gedankensprünge und -gebäude, seine Tiefe, seine Wunderwelten. Wenn Urs Widmer am Dienstag 75 Jahre alt wird und seine fast ebenso alt anmutende elektrische Schreibmaschine bearbeitet, ist ein großer Wortzauberer am Werk.
Dann erinnert sein Gartenhäuschen im Zürcher Stadtteil Hottingen an das „Laboratorium eines Alchimisten“. So empfand es die Schweizer Literaturkritikerin Beatrice von Matt. „Welten werden hier erzeugt, erkundet, verwandelt“, schrieb sie im Nachwort der „Gesammelten Erzählungen“, die Widmers Hausverlag Diogenes in einer Schmuckausgabe zu seinem Geburtstag herausgebracht hat. „Reise an den Rand des Universums“ hat der Schweizer, dessen Werke nicht selten in einem Atemzug mit jenen von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt genannt werden, seine Autobiografie genannt. Sie hat etwas Besonderes. Wie eigentlich alles von Widmer seit „Alois“. Mit diesem Debüt — einer durchaus verwirrenden Mischung von Comic, Action, Philosophie und Fantasie ohne wirkliche Handlung — griff er 1968 den traditionellen Literaturbegriff an.
„Alois“ war so konsequent Popkunst, wie bis dahin nichts Geschriebenes in deutscher Sprache. Und Widmers wuscheliger Lockenkopf passte bestens zu seiner Schreibart. Nun also die Autobiografie. Sie erscheint Ende August und enthält eine Warnung. Eine Autobiografie sei „das letzte Buch“. Danach komme nichts mehr. „Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.“ Das wird wohl ein Bluff sein. Widmers Autobiografie schreit geradezu nach mehr: Sie hört dort auf, wo jene anderer Autoren erst richtig in Fahrt kommen. Mit seinem 30. Lebensjahr nämlich. Jenem Jahr, in dem „Alois“ die literarischen Debattierrunden erreichte. Sie beginnt mit Ursens Zeugung an einem einsamen Nachmittag in einer Ferienbude im Lötschental. Anschließend kochte die Mutter Spaghetti, gekauft in einem Dorfladen, über dessen Tür „Handlung“ stand.
Sein Vater, Walter Widmer, ein angesehener Kritiker, Übersetzer und Gymnasiallehrer in Basel, befreundet mit Heinrich Böll, wollte immer einen Roman schreiben und tat es doch nicht. Solange er lebte, traute sich auch der Sohn nicht. Als Verlagslektor förderte Urs Widmer — in Basel geboren und dort 1966 promoviert mit einer Arbeit über die deutsche Nachkriegsprosa — die Schreibkunst Anderer.
Doch als der Vater mit 62 Jahren starb, „verwandelte ich mich, fast auf der Stelle, in einen Schriftsteller“, berichtete Widmer. Er stehe „auf den Schultern des Vaters“. Aber ebenso wichtig sei für ihn 1967 der Wegzug aus der Schweiz nach Frankfurt gewesen. 17 Jahre lebte und schrieb er in Deutschland. „Da kam ich erst richtig auf die Welt und lernte, was Geschichte bedeutet.“