Urteil: Geschwisterliebe ist kein Menschenrecht
Straßburg (dpa) - Mehr als drei Jahre lang saß Patrick S. im Gefängnis, weil er eine Liebesbeziehung zu seiner Schwester hatte. Nun scheiterte er vor dem Straßburger Menschenrechtsgericht. Rechtspolitiker fordern eine Abschaffung der Strafvorschrift.
Das Verbot der Geschwisterliebe verletze nicht die Menschenrechte, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag. Die Straßburger Richter wiesen die Beschwerde eines 35-Jährigen aus Leipzig einstimmig ab. Er hatte jahrelang mit seiner Schwester eine Liebesbeziehung und musste dafür mehrmals ins Gefängnis. Die beiden zeugten vier Kinder, zwei davon sind behindert. Inzwischen hat sich das Paar getrennt. Das Urteil ist nicht noch nicht rechtskräftig, es kann Berufung beantragt werden (Beschwerde-Nr. 43547/08).
Der Umgang mit Inzest sei in Europa nicht einheitlich geregelt, so die Richter - allerdings stelle eine Mehrheit der untersuchten Staaten Sex zwischen Geschwistern unter Strafe. „Der vorliegende Fall betrifft moralische Fragen“, heißt es in der Entscheidung. Deshalb hätten die Staaten „einen weiten Beurteilungsspielraum in der Frage, wie sie mit einvernehmlichen inzestuösen Beziehungen zwischen Erwachsenen umgehen“. Die deutschen Gerichte hätten das Für und Wider einer Bestrafung sorgfältig abgewogen; dabei hätten sie die von der Menschenrechtskonvention gesetzten Grenzen eingehalten.
Die Geschwister aus Sachsen waren getrennt voneinander aufgewachsen. Patrick S. wurde als Dreijähriger von seinem alkoholkranken Vater misshandelt, lebte von klein auf in Heimen und bei Pflegefamilien. Seine Schwester Susan wurde vom Jugendamt betreut. Im Jahr 2000, kurz vor dem Tod der leiblichen Mutter, lernten sich die beiden kennen - sie war damals 16, er 23.
Patrick S. wurde mehrmals zu Freiheitsstrafen verurteilt, insgesamt saß er nach Angaben seines Anwalts mehr als drei Jahre in Haft. 2008 war er mit einer Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe gescheitert. Seine Schwester war nicht bestraft worden - die Gerichte hielten sie wegen einer „abhängigen Persönlichkeitsstruktur“ und einer leichten geistigen Behinderung für schuldunfähig. Die heute 28-Jährige erklärte in der „Bild“-Zeitung (Freitag), dass sie eine solche Beziehung nicht noch einmal eingehen würde: „Früher war ich jung und hatte irgendwie Sehnsucht nach Liebe. Aber ich würde das nie wieder machen. Ich würde auch niemanden dazu raten.“
In Straßburg machte Patrick S. eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens geltend - ohne Erfolg. „Ich finde das Urteil enttäuschend. Der EGMR hat sich mit der Problematik von Beziehungen unter Geschwistern überhaupt nicht auseinandergesetzt“, sagte sein Anwalt Endrik Wilhelm der Nachrichtenagentur dpa. „Auch bei Homosexuellen hat man lange Zeit gedacht, man müsse das bestrafen oder therapieren. Das Ziel müsste auch bei Geschwistern sein: Dass der Staat die Gefühle respektiert. Und dort, wo es nötig ist, Hilfe anbietet.“
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) forderte bessere Hilfsangebote. „Allen Beteiligten ist mehr geholfen, wenn inzestuösen Geschwistern noch als Kindern eine therapeutische Begleitung angeboten wird“, teilte die Ministerin mit. Das Strafrecht könne den Inzest frühestens verhindern, wenn die Kinder strafmündig sind. „Der Schaden, den das Strafrecht verhindern will, ist dann aber schon oft eingetreten.“
Der Grünen-Rechtspolitiker Hans-Christian Ströbele verlangte eine Abschaffung des Inzest-Paragrafen. „Das ist ein einsames Relikt aus anderen Zeiten, in denen ja auch noch der Ehebruch strafbar war, das haben wir auch abgeschafft“, sagte Ströbele dem Nachrichtensender N 24. Der Paragraf 173 passe „in diese Zeit der geläuterten Auffassung über Ehe und Familie nicht mehr hinein. Er muss so weg“.
Der Justiziar der Linken-Fraktion im Bundestag und ehemalige BGH-Richter Wolfgang Neskovic sprach von einer „mutlosen Entscheidung“. Das Strafrecht solle „nicht dazu dienen, Moralverstöße zu sanktionieren, sondern die Verletzung von Rechtsgütern und sozialschädliches Verhalten“. Bei einvernehmlichen Beziehungen zwischen Geschwistern werde niemand geschädigt.