Verschwundene Kurdin: Die verbotene Liebe der Arzu Ö.
Eine junge Kurdin ist seit Wochen verschwunden. Ihre Familie soll sie entführt haben.
Detmold. Seit mehr als einem Monat ist Arzu Ö. aus Detmold verschwunden. Entführt, weil die Familie ihre Liebe zu einem Bäckergesellen nicht akzeptieren wollte, glaubt die Polizei.
Die fünf älteren Geschwister, vier Männer und eine Frau, sitzen in Untersuchungshaft und schweigen. Die Hoffnung, die 18-jährige Arzu lebend wiederzufinden, schwindet mit jedem Tag.
Detmold, die Nacht zum 1. November. Arzu ist bei ihrem Freund Alex. Gegen 1.30 Uhr drängen sich fünf Menschen in die Wohnung in der Talstraße. Alex und zwei Freunde berichten später, dass sie mit einer Handfeuerwaffe bedroht wurden.
Die Täter brechen Alex einen Finger und verschleppen die junge Frau. Seitdem fehlt jede Spur.
Bis zu diesem Sommer gilt die Familie rechtschaffen und ordentlich. „Die Familie Ö. ist eigentlich ein Paradebeispiel für eine gelungene Integration“, sagt Detlev Binder. Er ist der Anwalt von Kemal, Arzus Bruder, der seit Wochen in Haft ist.
„Alle sind zur Schule gegangen, haben eine Ausbildung gemacht, haben Arbeit.“ Die älteste Tochter arbeitet sogar bei der Stadtverwaltung. Auch sie sitzt jetzt im Gefängnis.
Was geschah im Sommer? Arzu schwänzt oft die Schule, erzählt Jürgen Heinz, Leiter der Sonderkommission „Talstraße“. „Sie hat die mittlere Reife verpatzt“, sagt die Bäckersfrau Ilse Müller. Die Müllers sind mit der Familie Ö. gut bekannt, seit mehr als 15 Jahren wohnt sie in einem großen Klinkerhaus, nur 150 Meter von der Bäckerei entfernt.
„Erst hat die Mutter hier geputzt, dann die älteste Tochter“, erzählt Ilse Müller. Später hat Arzu in der Bäckerei gejobbt, im Sommer auch am Wochenende. In diesen Wochen muss es gefunkt haben zwischen der jungen Frau mit den langen (damals) schwarzen Haaren und dem fünf Jahre älteren Bäckergesellen.
Eine verbotene Liebe in einer Familie, die dem Jesidentum angehört. Diese Religion verbietet die Heirat mit Andersgläubigen. Ende August ist ein Fall „häuslicher Gewalt“ aktenkundig, sagt Kriminalhauptkommissar Heinz.
Die junge Frau soll von Familienmitgliedern verprügelt worden sein. Arzu flieht ins Frauenhaus. Sie schneidet sich die Haare kurz und färbt sie blond. „Die Familie Ö. hat intensiv nach der Tochter gesucht“, berichtet Heinz, „Frauenhäuser angeschrieben, das Umfeld befragt.“
„Arzu wurde intensiv beraten, nicht zu Alex zu gehen“, sagt der Soko-Leiter. Die Wohnung ihres Freundes liegt gerade mal anderthalb Kilometer vom Elternhaus entfernt. „Aber sie ist 18, dazu verliebt.“ In der Nacht zum 1. November hält es Arzu nicht mehr aus, übernachtet bei Alex, ein verhängnisvoller Fehler.
Die Beamten stoßen bei ihren Befragungen in der weitläufigen Familie — allein in der Region an die hundert Verwandte — und im Umfeld auf eine Mauer des Schweigens. Medienberichte zu ,Ehrenmorden’ und heftige Debatten in Internetforen veranlassen den Zentralrat der Jesiden in Deutschland dazu, sich von jeglicher Gewalt zu distanzieren. „Es gibt keinen ,Ehrenmord’ im Jesidentum“, betont der Zentralrat.
Unterdessen schwinden die Hoffnungen, Arzu lebend wiederzufinden. „Wir hoffen, dass sie hier irgendwo in Deutschland festgehalten wird“, sagt Heinz. „Es ist unstreitig, dass mein Mandant dabei war“, sagt Anwalt Binder. „Alles andere liegt im Dunkeln.“ Auf die Frage der Polizei, ob Arzu getötet worden sei, habe Kemal gesagt: „Nein, das ist doch unsere Schwester“, und dabei habe er geweint.