Vertuschter Missbrauchsskandal an Elite-Schule: Konsequenzen gefordert
Darmstadt/Heppenheim (dpa). Der lange vertuschte Missbrauchsskandal an derOdenwaldschule in Südhessen ist größer als angenommen.
„Wir haben diegroße Befürchtung, dass es tatsächlich mehr sind als die Namen, die wirbis jetzt kennen“, sagte Direktorin Margarita Kaufmann der DeutschenPresse-Agentur dpa.
Die Schulleitung will nun systematisch Schüler derbetroffenen Jahrgänge anschreiben. Am Montag würden Briefe an alle 900Altschüler versandt, die zur fraglichen Zeit an der Schule waren. „Wirhaben auch eine Anwältin gefunden, die sich bereiterklärt hat, uns zubegleiten“, sagte Kaufmann.
Außerdem werde der Vorstand nach Ansicht der Direktorin durch seinen Rücktritt den Weg für einen Neuanfang ebnen. „Ich gehedavon aus, dass der Vorstand, dem ich ja angehöre, geschlossenzurücktreten wird“, sagte sie der „Frankfurt Rundschau“(Montagausgabe). Kaufmann will die Schule im südhessischen Heppenheimaber weiter leiten. Sie werde „die jetzt gestellten Aufgaben alsSchulleiterin uneingeschränkt annehmen“.
Sie persönlich sei sehr betroffen gewesen, als sie im Radiovon Missbrauchsfällen im katholischen Canisius-Kolleg gehört habe:„Es war exakt dasselbe, was bei uns passiert ist.“ Die „FrankfurterRundschau“ (FR) hatte am Samstag berichtet, dass es von 1971 bis 1985bis zu 100 Opfer gegeben haben könnte. Kaufmann geht davon aus, dasssich mindestens drei Lehrer sexueller Übergriffe schuldig gemachthaben. „Wir sind schon seit letztem Sommer in Kontakt mit ehemaligenSchülern unserer Schule, die uns von Missbrauchsvorfällen in großemAusmaß berichtet haben“, sagte sie.
Es habe auch viele gegeben, dienicht namentlich genannt werden wollten.Die vor 100 Jahren vom Pädagogen Paul Geheeb (1879-1961)gegründete Odenwaldschule im südhessischen Heppenheim gilt als eineder bekanntesten deutschen Reformschulen. Sie stellt bis heute dasLernen in Gemeinschaft in den Vordergrund - gemischt nach Alter undGeschlecht wohnen die gut 200 Internatsschüler in rund 30 Gruppen.
Die Schulleiterin - seit Oktober 2007 im Amt - ging nach eigenerAussage zunächst von nur wenigen Opfern aus. „Im Laufe der Gesprächeim letzten Jahr wurde mir deutlich, dass es wesentlich mehr Schülersind, und dass es vor allen Dingen auch sehr viel früher begonnenhat, nämlich 1970/71. Das war erschütternd, diese Erkenntnis.“
Die Vorwürfe richten sich vor allem gegen den damaligenLeiter der Eliteschule, aber auch gegen andere Lehrer. Die hessischeKultusministerin Dorothea Henzler (FDP) kündigte eine Prüfung derVorgänge und möglicher Versäumnisse der Schulaufsicht an. Die Grünenwollen den Fall zum Thema im Schulausschuss des Landtags machen.Bereits im August 1999 war eine Strafanzeige gegen denehemaligen Internatsleiter bei der Staatsanwaltschaft Darmstadteingegangen.
Ermittlungen habe es aber wegen der Verjährung derangeblichen Vorfälle nicht gegeben, sagte ein Sprecher damals.Auf der Liste der ehemaligen Schüler des Internats stehen prominente Namen. Schriftsteller Klaus Mann war nach Angaben der Schule im Odenwald. Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit besuchte die Schule von 1958 bis 1965. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker schickte einen seiner Söhne auf die Schule.
Um die Vorfälle aufzuarbeiten, habe die Schule eine moderierte Gesprächsrunde mit einem Psychologen gegründet. Jugendämter und Eltern der Schüler seien mittlerweile informiert. Es sei wichtig, dass die Odenwaldschule nun zu diesen Vorfällen Stellung beziehe. Für die Zukunft forderte sie eine „Kultur des Hinschauens“. Die Kinder sollten zu starken Persönlichkeiten erzogen werden, die in der Lage sind, sich gegen Missbrauch zu wehren.Die Schulleiterin räumte in einer Erklärung auf der Internetseite der Schule ein, das Ausmaß des Missbrauchs sei größer als bisher bekannt, die Schule sei „durch die Berichte der Opfer und das Ausmaß der Verbrechen massiv erschüttert und irritiert“.
Kaufmann sagte der FR: „Es war eine Unterlassung und ein grober Fehler, dass die Schule damals nicht nachgeforscht hat“. Es habe keine konsequente Aufarbeitung des Skandals gegeben.Kultusministerin Henzler kündigte an: „Wir werden uns das sehr genau ansehen und unseren Beitrag zur Aufklärung der damaligen Vorgänge leisten.“ Sie werde auch genau prüfen, ob es beim erstmaligen Bekanntwerden der Vorwürfe Ende der 90er Jahre Versäumnisse der Schulaufsichtsbehörden gegeben habe.
Die FR hatte berichtet, eine angekündigte Überprüfung habe nie stattgefunden.In der Erklärung der Schulleiterin heißt es, ehemalige Schülerseien mit Blick auf das 100. Jubiläum in diesem Jahr erneut zu ihrgekommen, um von ihren Missbrauchserlebnissen in den 1970er und1980er Jahren zu berichten. „Die Odenwaldschule erkennt denjahrelangen Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Pädagogen ihrerSchulgeschichte an und versteht diese traumatische Erfahrung als Teilihrer Identität.“ Sie entschuldige sich bei den Opfern.