Warum uns das Eisbären-Baby so anrührt
Ein Kommentar von Eberhard Fehre zum Nürnberger Eisbärenmädchen Flocke.
Nürnberg. Fünf Wochen ist das kleine Fellknäuel alt und nur knapp 3150 Gramm schwer. Vier Pfleger stehen rund um die Uhr bereit, kraulen den flauschigen Eisbärenbauch, massieren die zarten Kiefer und bürsten das Fell. Die Namenssuche beschäftigte die Republik, und im fernen Sibirien wird schon mit Hochdruck nach einem künftigen Spielgefährten gefahndet. Das tägliche Bulletin, zuverlässig über CNN in alle Weltteile verbreitet, informiert detailliert über die sensationelle Entwicklung: Erst öffnete "Flocke" kurz das linke, darauf auch einmal das rechte Auge; das erste Zähnchen kündigte sich an, und am nächsten Tag musste die Eisbärendame am Hintern gekitzelt werden, damit’s auch mit der Verdauung klappt. Kaum auf der Welt, war "Flocke" schon ein Internetstar. Und wir wollten - sind wir nur ehrlich - das alles tatsächlich auch wissen. Spielverderber haben da keine Chance. Hinweise darauf, dass wir mit unserem eigenen Nachwuchs, glaubt man nur den sich häufenden Nachrichten, gelegentlich erschreckend herzlos umgehen, laufen ins Leere. Warnungen von Tierschützern, hier werde ein neuer "Problembär" aufgepäppelt, dem jedes "normale Sozialverhalten" fehle, quittieren wir mit einem Schulterzucken. Was hätte man denn tun sollen? Auch die schamlose Vermarktung der inzwischen schon geschützten "Marke" Flocke nehmen wir hin, ebenso seine Instrumentalisierung für einen durchaus fragwürdigen Klimaschutz. So ist halt das Leben. Und wenn uns auch hin und wieder der peinliche Verdacht beschleicht, dass mit uns selbst vielleicht doch etwas nicht so ganz in Ordnung sein könne, wenn wir derart auf das putzige Wollknäuel abfahren, dann genügt ein Blick auf seine rührend hilflose Existenz, um alle Zweifel an der umstrittenen Handaufzucht auf der Stelle zu zerstreuen. Irgendwie erkennen wir uns selbst in dieser hilflosen Kreatur. Das Raubtier blenden wir aus, stattdessen wissen wir alles über die Zusammensetzung seines Babybreis. Aber das ist letztlich doch ein starker Trost. So schlecht kann es wohl um unsere Welt nicht bestellt sein, wenn wir die Zeit haben, uns um diesen süßen Fratz zu kümmern, als hinge davon das Überleben unserer Zivilisation ab. Denn am Ende tut sie das vielleicht ja wirklich. eberhard.fehre@wz-plus.de