Überblick Was wir im Mordfall Lübcke wissen - und was nicht

Kassel/Wolfhagen · Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) wurde auf seiner Terrasse erschossen. Es gibt einen dringend Tatverdächtigen. Doch viele weitere Fragen sind offen. Ein Überblick:

Das Wohnhaus des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU). Hier wurde der Politiker ermordet.

Foto: dpa/Swen Pförtner

WAS WIR WISSEN

TATVERDÄCHTIGER: Dringend tatverdächtig ist der 45-jährige Deutsche Stephan E. Er sitzt in Untersuchungshaft, nachdem ihn ein Spezialkommando am frühen Samstagmorgen vor einer Woche in seinem Haus in Kassel festgenommen hat.

VERGANGENHEIT: Laut Bundeskriminalamt hat E. eine „lange Latte von Straftaten“ begangen. Diese reicht laut Staatsanwaltschaft Wiesbaden bis in die Achtzigerjahre zurück. 1989 legte er demnach ein Feuer im Keller eines Mehrfamilienhauses im hessischen Aarbergen-Michelbach. Das Haus war überwiegend von türkischen Staatsbürgern bewohnt. 1992 stach er auf einer Toilette am Wiesbadener Hauptbahnhof auf einen ausländischen Mitbürger ein und verletzte ihn schwer. 1993 verübte er einen Anschlag mit einer Rohrbombe auf ein Asylbewerberheim im hessischen Hohenstein-Steckenroth. 1994 schlug er in der U-Haft mit einem Stuhlbein auf einen ausländischen Mitgefangenen ein. 2009 war Stephan E. dann in Dortmund an einem Angriff von Rechtsextremisten auf eine 1.-Mai-Kundgebung des DGB beteiligt. Für die drei Taten in den Neunzigerjahren bekam er sechs Jahre Jugendstrafe.

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang zufolge trat Stephan E. in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr so deutlich wie früher als Rechtsextremist in Erscheinung. Ein Bekannter aus seinem Schützenverein sagt, er sei dort nicht durch rechte Parolen aufgefallen.

WAS WIR NICHT WISSEN

WEITERE TÄTER: Ob es weitere Täter gab, prüft die Bundesanwaltschaft. Nach Informationen von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR will ein Zeuge in der Tatnacht einen Schuss gehört und 20 Minuten später zwei Autos bemerkt haben, die in „aggressiver Manier“ durch Lübckes Wohnort fuhren. Demnach hatte er den Eindruck, als hätten sie sich verfahren. Bereits im Haftbefehl gegen Stephan E. soll es laut dem Bericht „Hinweise auf Mittäter oder Mitwisser“ gegeben haben.

AUTO: Eines der beiden Fahrzeuge benannte der Zeuge als Volkswagen Caddy, das andere konnte er den Berichten zufolge nicht beschreiben. Später hätten die Ermittlungen ergeben, dass Stephan E. einen solchen VW Caddy fahre, der auf seine Frau zugelassen sei. Bei der Durchsuchung der Wohnung von Stephan E. hätten die Ermittler einen weiteren Autoschlüssel entdeckt, versteckt im CD-Fach eines Radios im Gäste-WC. Dieser gehöre zu einem Skoda, den Stephan E. kurz vor der Tatnacht von einem Familienmitglied übernommen haben soll. Dieses Auto ist bisher nicht aufgetaucht.

VERNETZUNG IN DER SZENE: Nach Behördenangaben hat sich Stephan E. nach 2009 mit rechtsextremistischen Aktivitäten öffentlich zurückgehalten. Die Ermittler prüfen allerdings, ob E. auch noch in den vergangenen Jahren Kontakte in die rechte Szene in Nordhessen hatte. Aktiv gewesen sind in der Region etwa die militante Gruppe „Combat 18“ und der 2015 verbotene Verein „Sturm 18“.

Ein Bericht des ARD-Magazins „Monitor“ legt solche Kontakte von Stephan E. in die rechte Szene nahe, die Staatsanwaltschaft hat diese Informationen aber noch nicht bestätigt. Dem Bericht zufolge nahm Stephan E. noch am 23. März dieses Jahres an einer konspirativen rechtsextremen Veranstaltung im sächsischen Mücka teil. Das gehe aus Fotos hervor, die „Monitor“ gemeinsam mit einem Gutachter ausgewertet hat. E. sei dort zusammen mit Mitgliedern von „Combat 18“ und der neonazistischen Vereinigung „Brigade 8“ fotografiert worden.

TATWAFFE: Lübcke wurde mit einer Schusswaffe ermordet - soviel weiß man. Allerdings ist sie noch nicht gefunden. Der Verdächtige war Mitglied in einem Schützenverein, hat laut BKA aber keine Waffenbesitzerlaubnis für Schusswaffen gehabt. Er habe dort nur mit dem Bogen geschossen und keinen Zugriff auf Feuerwaffen gehabt, sagt der Vorsitzende seines Schützenvereins.

GENAUES MOTIV: Der Generalbundesanwalt sieht „zureichende Anhaltspunkte für einen rechtsextremen Hintergrund“ und spricht von einem „politischen Attentat“. Was genau E. antrieb und warum er Lübcke als Opfer wählte, ist nach Behördenangaben unklar.

Bekannt ist, dass Lübcke schon vor der Tat wegen seiner Haltung zu Flüchtlingen bedroht worden war. Er hatte sich 2015 auf einer Informationsveranstaltung zu einer geplanten Flüchtlingsunterkunft gegen Schmährufe gewehrt und gesagt, wer gewisse Werte des Zusammenlebens nicht teile, könne das Land verlassen.

Wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ am Freitag berichtete, könnte Stephan E. an dieser Veranstaltung persönlich teilgenommen haben. Das Magazin zitiert Ermittler mit den Worten, E. habe Lübckes Auftritt nicht nur „sehr genau wahrgenommen“, sondern gegenüber Gleichgesinnten auch „kommentiert und bewertet“. In einem Chat habe er sich über Lübcke aufgeregt und ihn als „Volksverräter“ bezeichnet. Dem Bericht zufolge liegt das Bürgerhaus von Lohfelden, in dem die Versammlung stattfand, nur zwei Kilometer von E.s Wohnhaus entfernt. Die Erstaufnahmeeinrichtung habe nur einen guten Kilometer von seinem Haus entfernt entstehen sollen.

ZEITPUNKT: Unklar ist, warum E. seit 2009 öffentlich nicht mehr auffiel mit rechtsextremistischen Aktivitäten. Seither sind zahlreiche Flüchtlinge ins Land gekommen. Falls er der Täter und die Tat eine Reaktion darauf sein sollte, bliebe immer noch offen, warum er genau jetzt zugeschlagen haben sollte, mehrere Jahre nach dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms.

(dpa)