Studie: Neandertaler schufen erste Knochen-Spezialwerkzeuge Europas

Leipzig (dpa) - Die Neandertaler waren möglicherweise geschickter als gedacht und haben die ersten Spezialwerkzeuge Europas aus Knochen geschaffen.

Forscher vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie Leipzig und der niederländischen Universität Leiden entdeckten in zwei altsteinzeitlichen Ausgrabungsstätten im Südwesten Frankreichs Werkzeuge aus Knochen. Sie sind sogenannten Lissoirs sehr ähnlich, die noch heute zur Bearbeitung von Leder verwendet werden. Möglicherweise handele es sich bei dem Lissoir um das einzige Erbe aus der Zeit der Neandertaler, das die Gesellschaft heute noch nutzt.

Vielleicht bringen die Wissenschaftler mit ihren Funden sogar etwas mehr Klarheit in einen alten Wissenschaftler-Streit um die Fähigkeiten von Neandertalern. Einige Forscher meinen, Neandertaler hatten kulturelle Fähigkeiten, ähnlich denen des modernen Menschen. Andere denken hingegen, dass diese Fähigkeiten erst auftraten, als sich Menschen und Neandertaler begegneten. Die Neandertaler wurden vor 40 000 Jahren vom modernen Menschen aus Europa verdrängt.

In den Knochenwerkzeugen sieht Shannon McPherron vom Leipziger Max-Planck-Institut einen Beleg dafür, dass die Neandertaler eine eigene Technologie hatten, die bisher dem modernen Menschen zugeschrieben wurde. Womöglich haben die modernen Menschen sogar von ihnen gelernt. Mit den aus Tierrippen hergestellten, länglichen Schleifwerkzeugen machten die Neandertaler den Forschern zufolge das Leder weicher und wasserbeständiger. Dabei hätten sie sich die Biegsamkeit und Flexibilität der Knochen zunutze gemacht. Die Forscher veröffentlichten die Studie in den „Proceedings“ der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften („PNAS“).

Sollten die Neandertaler die Knochenwerkzeuge selbst entwickelt haben, könnten die modernen Menschen die Technologie von ihnen übernommen haben. Denn als die modernen Menschen Europa besiedelten hatten sie nur spitze Knochenwerkzeuge. Wenig später stellten sie aber Lissoirs her. Die Forscher werten dies als ersten Hinweis darauf, dass es einen kulturellen Transfer gegeben hat.

Es bleiben allerdings Fragen. Die Wissenschaftler können nicht ausschließen, dass der moderne Mensch früher als bisher gedacht in Europa angekommen ist und die Neandertaler beeinflusst hat. Um das zu klären sollen weitere Fundstätten in Zentraleuropa untersucht werden.

Wie weit verbreitet die Lissoir-Herstellung bei den Neandertalern war, ist noch unklar. Bei den ersten drei Fundstücken handelte es sich um jeweils wenige Zentimeter lange Fragmente, die kaum als Werkzeuge erkennbar waren.

„Legt man aber diese kleinen Fragmente zusammen und vergleicht sie mit Funden aus jüngeren Ausgrabungsstätten, wird ein Muster deutlich“, sagt McPherron. „Im vergangenen Sommer sind wir dann auf ein größeres, vollständigeres Werkzeug gestoßen, unverkennbar ein Lissoir, wie wir ihn in jüngeren Fundstätten des modernen Menschen oder sogar heutzutage in einer Lederwerkstatt finden.“

Mikroverschleißanalysen an einem der Knochenwerkzeuge zeigen Spuren, die auf eine Verwendung für ein weiches Material hindeuten, wie etwa Tierhaut. Moderne Lederarbeiter nutzen ähnliche Werkzeuge noch heute. „Lissoirs wie diese eignen sich so gut zur Bearbeitung von Leder, dass ich 50 000 Jahre, nachdem die Neandertaler sie herstellten, über das Internet ein fast baugleiches Exemplar bestellen konnte“, sagt Marie Soressi von der Universität Leiden.