Düsseldorf. Herr Genscher, Ihre berühmte Mitteilung auf dem Balkon der Prager Botschaft ging im Jubel unter. Selbst heute bekommt man noch eine Gänsehaut, wenn man diese Bilder sieht. Was haben Sie in dem Augenblick gespürt?
Genscher: Ich war aufgewühlt wie selten. Nach einer harten Verhandlungswoche in New York mit dem DDR-Außenminister Oskar Fischer und dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse konnte ich endlich sagen: Der Weg ist frei. Eine erlösende Erklärung für tausende Flüchtlinge in der Botschaft. Ich, der selbst als 25-Jähriger die DDR verlassen hatte, empfand Glück, Dankbarkeit und Demut zugleich.
War es das bedeutendste Ereignis in Ihrer Zeit als Außenminister?
Genscher: Es war eines der bedeutendsten und auf jeden Fall aufwühlendsten Ereignisse. Es vollzog sich ein Akt der Menschlichkeit, der mit Ost-Berlin und mit Moskau möglich geworden war. Dass ich, noch gezeichnet von meinem Herzinfarkt im Juli, nach New York gereist war, um mit Fischer und Schewardnadse zu reden, hatte sich gelohnt.
Wie haben Sie die DDR-Führung damals zu der Ausreisegenehmigung bewegen können?
Genscher: Außenminister Fischer sagte, man müsse die Souveränität der DDR wahren. Deshalb müssten die Flüchtlinge für einige Zeit in die DDR zurückkehren und von dort ausreisen. Ich schlug ihm zwei Alternativen vor. Erstens: Die Konsularleute der DDR kommen in unsere Botschaft und stempeln als Akt der Souveränität die Pässe. Zweitens: Die Züge fahren durch die DDR und nicht direkt über die bayerisch-tschechische Grenze.
Hatten Sie damals den Eindruck, dass man im Politbüro die Realität in der DDR überhaupt noch richtig zur Kenntnis nahm?
Genscher: Welche Diskussionen es in der DDR-Führung in dieser Frage gegeben hat, weiß ich nicht. Sicher ist: Die Entscheidung, die mir kurz vor der Abreise aus New York bekanntgegeben wurde - Einzelheiten sollten mir am nächsten Morgen in Bonn mitgeteilt werden - ist ihnen nicht leicht gefallen, denn sie bedeutete eine Kehrtwende. Die Entscheidung für die Alternative Zwei könnte Ergebnis eines Realitätsverlustes gewesen sein, denn die Fahrt der Züge durch die DDR wirkte wie ein Fanal. Das wäre bei der Fahrt über die tschechisch-bayerische Grenze nicht so stark gewesen.
Damals waren die Menschen, die ausreisen durften, überglücklich. Keine sechs Wochen später fiel die Mauer. Glauben Sie, dass die Menschen später bereut haben, nicht noch etwas gewartet zu haben?
Genscher: Ich glaube das eher nicht. Jedenfalls ist keine Rede davon, wenn mich frühere Flüchtlinge treffen oder mir schreiben. Sie fühlen wohl, dass gerade ihre Flucht in die Botschaft und dann die Ausreise ein schwerer Schlag gegen die Mauer war. Die vorrevolutionäre Entwicklung in der DDR wurde wesentlich verstärkt. Im Grunde haben die Flüchtlinge in den Botschaften Geschichte geschrieben, so wie in viel größerer Zahl die Menschen in den Straßen von Leipzig und überall in der DDR. Es stimmt schon: Die Mauer wurde vom Osten her zum Einsturz gebracht, friedlich.