Alptraum eines Geigers in New York

Seit mehr als einem Jahr wartet der Leipziger Stefan Arzberger auf eine Entscheidung der US-Justiz. Kommt es zum Mordprozess?

Foto: Anja Reich/Berliner Zeitung/dpa

New York. Es ist der Morgen des 27. März 2015. Stefan Arzberger sitzt auf einem Bett im feinen New Yorker Hudson Hotel. In Handschellen. Es ist der Tag, an dem für einen der besten deutschen Geiger alles anders wird. Seither läuft der 43-Jährige Tag für Tag durch Manhattan, aber nicht wie ein Tourist. „Ich fühle mich gefangen hier, kann an diesem Ort des Vergnügens nicht in das pulsierende Leben eintauchen“, sagt er Journalisten des ZDF für deren Reportage „Eine verhängnisvolle Nacht“. Er suche ständig nach einer Erklärung für das Geschehene und finde sie doch nicht.

Arzberger darf die Stadt nicht verlassen, musste seinen Pass abgeben und wartet auf die Justiz. Die muss entscheiden, ob er sich einem Prozess wegen versuchten Mordes stellen und eine langjährige Haft befürchten muss. Immer wieder gibt es gerichtliche Anhörungen. Am Dinestag folgt eine weitere, in die der verheiratete Mann, der gegen Kaution von 100 000 Dollar auf freiem Fuß ist, seine Hoffnung setzt: dass sein Alptraum ein Ende hat und die Sache ohne Strafprozess beigelegt wird.

Es ist eine bizarre Geschichte, in der Arzberger offenbar Täter und Opfer zugleich wurde. Sein Auftritt mit dem Leipziger Streichquartett im edlen Harvard Club ist für eben jenen 27. März 2015 angesetzt. Am Vorabend schaut er sich noch den glitzernden Times Square an. Was danach passiert, daran hat er nach eigener Aussage keine Erinnerung.

Es gibt aber ein Hotelvideo. Dies zeigt, wie Arzberger um kurz vor vier Uhr morgens in Begleitung einer Frau das Hotel betritt. Die beiden gehen zum Aufzug. Eine dreiviertel Stunde später zeigt das Hotelvideo, wie die Frau wieder im Aufzug herunterfährt. Sie hat das iPad von Arzberger bei sich und — so zeigt sich später — seine Kreditkarte, mit der sie, wie spätere Videoaufnahmen einer Bank zeigen, vergeblich versucht, Geld abzuheben.

Später wird sie festgenommen, und da stellt sich heraus, wie Arzbergers Anwalt Nicholas Kaizer es formuliert, „that she is a he“. Sie ist ein Er, ein Transvestit. Und der hat eine Vorgeschichte mit Drogen, wie Kaizer sagt. Das wiederum könnte eine große Rolle dabei spielen, was weiter im Hotel passiert ist.

Um kurz vor acht Uhr an jenem Morgen bemerken Hotelmitarbeiter, wie ein nackter Mann durch den Hotelflur irrt und an verschiedene Zimmertüren klopft. Eine Frau öffnet ihm schließlich und berichtet später der Polizei, Arzberger habe sie gewürgt — bis der Sicherheitsdienst ihn stoppte. Die 64-Jährige verklagt ihn zivilrechtlich auf ein Millionen-Schmerzensgeld.

Arzberger sagt heute: „Ich bitte sie um Verzeihung, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann. Das gebietet der Anstand und mein inneres Bedürfnis.“ Dass da etwas passiert ist und dass seine Person da involviert sei, wie er es ausdrückt, sei ja wohl offensichtlich. Aber wie und warum — das sei für ihn ein Rätsel. Anwalt Kaizer setzt auf fehlende Schuldfähigkeit seines Mandanten. Der Transvestit habe ihm Drogen in einen Drink gemischt.

K.o.-Tropfen, die Arzberger völlig außer Kontrolle geraten ließen, die seine Persönlichkeit veränderten? Das müsste sich doch nachweisen lassen. Aber das ist nicht mehr möglich. Zwar wurde ihm einen Tag nach dem Tatgeschehen Blut abgenommen. Doch nicht jede dieser Chemikalien lässt sich mit gängigen Tests nachweisen. Als die konservierte Blutprobe Anfang April 2015 auf Antrag des Verteidigers noch einmal auf bewusstseinsverändernde Substanzen untersucht wird, verläuft der Test negativ. Mögliche Erklärung: Nach so langer Zeitspanne sind solche Spuren nicht nachweisbar. Auch die Urinprobe ist da längst entsorgt.

Der Transvestit bestreitet den Drogenvorwurf, was Arzberger in Beweisnot bringt. Und so wartet er und hofft, dass die Richter ihm glauben. Der Geiger kommt bei helfenden Menschen in New York unter, eine Spendeninitiative in Deutschland sammelt, um die Anwaltskosten zu begleichen. Es gibt ein Benefizkonzert für ihn, sogar der große Dirigent Kurt Masur macht sich noch kurz vor seinem Tod im Dezember vergangenen Jahres für ihn stark. Er habe Arzberger als einen der führenden Musiker des Gewandhaus-Orchesters in Leipzig gekannt. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass er eine solche Straftat begehen konnte.“

Anwalt Kaizer sagt im ZDF-Gespräch, dass er Hunderte Briefe erhalten habe — von Menschen, die Arzberger kennen. Die sagten, das könne nicht sein. Kaizer setzt nun auf ein psychiatrisches Gutachten, dessen Fertigstellung aber Monat für Monat auf sich warten lässt. Ob es in der heutigen Anhörung vor dem Gericht vorliegen wird, ist offen. Falls nein, geht Arzbergers Alptraum in den Häuserschluchten von New York weiter.

Seine düstere Geschichte will so gar nicht passen zu der Kulisse, in der die deutschen Fernsehreporter mit ihm sprechen. Hier im imposanten New Yorker Central Park redet Arzberger über seine dunklen Gedanken. Und dass es sich anfühlt wie ein immer wieder neues „Rauskrabbeln aus dem schwarzen Loch — und immer wieder reinfallen.“ Arzberger sieht sich tief in der Schuld bei all denjenigen, die ihm helfen, durch Gewährung einer Bleibe in New York, durch das Engagement im fernen Deutschland. „Ich will wieder in den großen Topf der Helfenden einzahlen“, sagt er. Doch er kann es nicht, ist zum Nichtstun verdammt.

Sein Anwalt kann ihm nur etwas Hoffnung machen: „Es besteht eine Chance, dass es keinen Prozess geben wird“, sagt Kaizer. In den laufenden Verhandlungen ziehe die Staatsanwaltschaft „alle Optionen“ in Betracht. Und damit offenbar auch die Chance, dass er ganz ohne Strafverfahren aus der Sache herauskommt. Ein konkretes Angebot für eine Einigung gebe es derzeit aber nicht.

Mehr zu dem Fall: support-for-arzberger.com/de