Analyse 400 Abgeordnete für Erdogan — der zweite (Wahl-)Versuch

Am Sonntag wählen 53 Millionen Türken ein neues Parlament. Die Regierungsbildung nach der Wahl im Juni war mit Ansage gescheitert.

Der türkische Staatspräsident und AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan steht zwar am Sonntag nicht zur Wahl. Dennoch dreht sich alles um ihn.

Der türkische Staatspräsident und AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan steht zwar am Sonntag nicht zur Wahl. Dennoch dreht sich alles um ihn.

Foto: dpa

Düsseldorf. „Gebt mir 400 Abgeordnete, und die Sache wird friedlich enden.“ So eröffnete der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im März eine Rede in der anatolischen Stadt Gaziantep. Mit der Sache meinte er die bevorstehende Wahl für das Parlament am 7. Juni. Die 400 Abgeordneten hätten seiner Partei — Erdogan ist Vorsitzender der muslimisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP — eine Zweidrittelmehrheit beschert, die es ermöglicht hätte, die Verfassung zu ändern.

Aus dem Wahlkampf hätte der zwölfte Präsident der Republik sich heraushalten sollen — so sieht es zumindest die türkische Verfassung vor, die der erste Mann im Staate qua Amt zu schützen hat.

Trotz oder wegen der verbotenen Einmischung ging die Sache schief. Statt der 400 zogen 258 AKP-Abgeordnete ins Parlament. Grund für die saftige Niederlage war das überraschende Abschneiden der HDP, der Demokratischen Partei der Völker, die die Zehn-Prozent-Sperrklausel übersprungen hatte und 80 Leuten in die Nationalversammlung nach Ankara schickte.

Erstmals sitzt mit der HDP eine pro-kurdische Partei im Parlament. Wobei die Bezeichnung pro-kurdisch stark vereinfacht ist. Die HDP versteht sich als demokratisch- sozialistische Bewegung — und ist damit vor allem für Intellektuelle, Linke und Wählerinnen eine politische Alternative. Dem kurdischen Co- Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtas (42), wird aber eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nachgesagt. Seit dem Einzug seiner HDP ins Parlament gilt der charismatische Politiker — der „kurdische Obama“ — als größter innenpolitischer Gegner Erdogans.


Dessen Partei war nach dem Debakel vom Juni auf einen Juniorpartner angewiesen. Ideologisch liegen die kemalistische CHP, die rechtsextreme MHP und die HDP aber weit auseinander. Beobachter gehen zudem davon aus, dass Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (56, AKP) die Koalitionsverhandlungen auf Geheiß Erdogans scheitern ließ. Dessen erklärtes Ziel, den Umbau der Türkei in ein Präsidialsystem, ist nur per Verfassungsänderung mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament möglich — wofür Erdogan aber die Stimmen fehlen.

Nicht zuletzt deshalb nennt er den provozierten Urnengang am Sonntag eine „Wiederholungswahl“. Ob die AKP dieses Mal die absolute Mehrheit einfährt, ist allerdings ungewiss; türkische Meinungsforscher prognostizieren eine Wiederholung des Juni- Ergebnisses. Mehmet Ali Sahin, ehemaliger Justizminister und Gründungsmitglied der AKP, teilte per Twitter bereits mit, was geschehe, wenn es am Sonntag zu keiner alleinigen Mehrheit (s)einer Partei komme: Dann werde die Wahl eben ein weiteres Mal wiederholt.

Dass es im Wahlkampf alles andere als fair zugeht, zeigen die jüngsten Ereignisse. Am Mittwoch übernahm die Polizei in Istanbul vor laufenden Kameras die Kontrolle über zwei regierungskritische Fernsehsender. Journalisten wurden abgeführt, nachdem sie verdroschen und mit Tränengas attackiert worden waren. Immer wieder gab es Angriffe auf Büros der HDP. Im September steckten Nationalisten mehr als 100 Parteibüros in einer einzigen Nacht an. Dutzende Funktionäre sitzen in Haft — mit der Allzweckbegründung, die PKK unterstützt zu haben.

Auf deren Stellungen fliegt die türkische Luftwaffe heftigste Angriffe. Auslöser war im Juli ein Anschlag in der südtürkischen Stadt Suruc, bei dem 33 pro-kurdische Aktivisten ums Leben kamen. Nach offizieller Lesart soll die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dahinter stecken. Die PKK hält hingegen den Staat für mitschuldig — und tötete aus Rache zwei Polizisten.

Seitdem steht das Land am Rande eines Bürgerkriegs. Erdogan erklärte nach dem Anschlag, hart gegen sämtliche Terroristen vorzugehen. Was er damit meinte, zeigte sich wenig später. Statt des IS bombardierten seine Kampfjets vor allem PKK-Stellungen in der Südosttürkei und im Nordirak. Am Dienstag griff die türkische Luftwaffe erstmals auch Stellungen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Nordsyrien an. Die sind seit kurzem Verbündete der USA im Kampf gegen den IS und sollen gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee (FSA) eine Offensive auf die IS-Hauptstadt al- Rakka in Syrien starten.

Die Terrortruppe IS soll nach Angaben der Staatsanwaltschaft vom Mittwoch auch für den Selbstmordanschlag am 10. Oktober in der türkischen Hauptstadt Ankara verantwortlich sein, bei dem 102 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt wurden. Wenige Tage zuvor hatte Ministerpräsident Davutoglu noch die einigermaßen absurde Behauptung aufgestellt, die PKK, die linksextreme DHKP-C und der IS hätten den Anschlag gemeinsam geplant und ausgeführt.

Ob die politische Hängepartie und die Gewalt am Sonntag ein Ende haben, ist höchst ungewiss. Als Koalitionspartner käme am wahrscheinlichsten die CHP infrage, glaubt Sinan Ülgen vom Zentrum für Wirtschafts- und Außenpolitikstudien in Istanbul. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu (66) hatte im Sommer aber eine Bedingung für eine Partnerschaft mit der AKP gestellt: Erdogan solle sich aus der Regierungspolitik raushalten — so, wie es die Verfassung verlange.

Der Präsident hat allerdings andere Pläne.