Angeblich mehr als 200 Tote in Libyen

Tripolis/Manama/Rabatt (dpa) - Panzerfäuste und Maschinenwaffen gegen Andersdenkende: Mit brutaler Gewalt haben Elitetruppen in Libyen die Gegner von Machthaber Muammar al-Gaddafi zusammengeschossen. Nach Berichten der Opposition starben binnen zwei Tagen mindestens 200 Menschen.

Doch der Protest breitet sich wie ein Flächenbrand aus. An den übrigen Brennpunkten in der islamischen Welt herrschte am Sonntag gespannte Ruhe. Lediglich in Teheran kam es zu neuen Zusammenstößen der Opposition mit der Polizei. Dabei wurde ein Demonstrant getötet.

Die Zahl der Toten in Libyen wurde am Sonntag von der Website „Libya al-Youm“ mit 208 beziffert. In der Stadt Bengasi habe sich ein Teil der Soldaten den Aufständischen angeschlossen. Einige Städte sollen nach Angaben von Oppositionellen ganz oder zum Teil „befreit“ sein. Von unabhängiger Seite ließen sich diese Informationen jedoch nicht verifizieren. In Libyen gibt es kaum ausländische Journalisten. Daneben wurden die meisten Internet-Verbindungen gekappt.

Der arabische Sender Al-Dschasira berichtete am Sonntag von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Bengasi. Augenzeugen sprachen davon, dass sich die Stadt in eine „Kriegszone“ verwandelt habe. „Es ist ein riesiges Massaker, es ist einfach schrecklich“, sagte ein anderer Augenzeuge.

In Al-Baidha im Osten sollen dem Vernehmen nach außer den Regimegegnern inzwischen auch bewaffnete Verbrecherbanden auf den Straßen unterwegs sein. Angeblich sollen an den Kämpfen in der Ostregion unter anderem Soldaten aus dem Tschad, aus dem Senegal, aus Zentralafrika, Simbabwe und Sierra Leone beteiligt sein.

Eine Gruppe von 50 muslimischen Geistlichen appellierte an die libyschen Sicherheitskräfte, nicht auf Zivilisten zu schießen. Sie riefen alle Muslime im Regime auf, nicht auf Brüder oder Schwestern zu schießen. „Stoppt das Massaker jetzt“, heißt es in der Mitteilung. Vor dem Obersten Gericht in der libyschen Hauptstadt Tripolis demonstrierten am Sonntag Anwälte, Richter und Staatsanwälte gegen den Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten. Das berichteten Augenzeugen.

Angesichts der blutigen Proteste in Libyen fordert die EU ein Ende der Gewalt in dem nordafrikanischen Land. „Ich bin darüber besorgt, was derzeit in Libyen geschieht“, sagte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Sonntagabend in Brüssel am Rande von Beratungen der EU-Außenminister. Die Europäische Union dränge „auf ein Ende der Gewalt und auf einen Dialog“. Ashton bezog sich in ihrer Erklärung ausdrücklich auch auf das krisengeschüttelte Königreich Bahrain.

Libyen macht eine ausländische Verschwörung für die Unruhen verantwortlich. Die staatliche Nachrichtenagentur Jana verbreitete am Samstagabend, die Sicherheitskräfte hätten Angehörige einer Verschwörergruppe festgenommen, darunter Palästinenser, Tunesier und Sudanesen. Es sei möglich, dass der israelische Geheimdienst seine Finger im Spiel habe.

Beim Polizeieinsatz gegen Demonstranten im Iran wurde am Sonntag ein junger Mann am Haft-Tir-Platz im Zentrum Teherans erschossen, wie Websites der Opposition meldeten. Die Polizei war zuvor mit Tränengas und Knüppeln gegen die Demonstranten vorgegangen. Zahlreiche Demonstranten wurden festgenommen, unter ihnen auch die Tochter des Ex-Präsidenten Akbar Haschemi Rafsandschani.

Einige hundert Regierungsgegner kamen vor der Zentrale des staatlichen Fernsehnetzes IRIB zusammen, das als wichtigstes Propagandainstrument der iranischen Führung gilt. Die iranischen Sicherheitskräfte hatten zu Wochenbeginn eine Kundgebung der Opposition, die sich mit der Reformbewegung in Ägypten und Tunesien solidarisieren wollte, brutal niedergeschlagen. Mindestens zwei Menschen kamen dabei ums Leben.

Auch in Marokko demonstrierten am Sonntag hunderte Menschen für demokratische Reformen. Bürgerinitiativen und Jugendgruppen hatten zum „Tag des Stolzes“ mit Kundgebungen in etwa 20 Städten aufgerufen. Sie verlangten eine Einschränkung der Macht des Königs Mohammed VI. Marokko hat eine vielfältige Parteienlandschaft und ein frei gewähltes Parlament. Die Macht der Regierung ist allerdings dadurch eingeschränkt, dass der König in wichtigen Fragen das letzte Wort hat. Der Monarch ernennt auch die Minister für die Schlüsselressorts.

Im Golfstaat Bahrain herrschte nach tagelangen Unruhen gespannte Ruhe. Nach dem Rückzug der Armee in die Kasernen hatten mehrere tausend Regierungsgegner am Samstag den zentralen Lulu-Platz wieder besetzt und dort Lager aufgeschlagen. Kronprinz Scheich Salman bin Hamad al-Chalifa bedauerte in einem Fernsehinterview den Tod von mindestens vier Demonstranten in den vergangenen Tagen.

Auf Weisung seines Vaters, König Hamad bin Issa al-Chalifa, nahm er erste Kontakte zur Opposition auf. Oppositionsgruppen forderten für den angebotenen nationalen Dialog allerdings zunächst die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Auch im Jemen bot Präsident Ali Abdullah Salih der Opposition nach Tagen des Protests und der Gewalt einen Dialog an. Er sei bereit, über alle „legitimen Forderungen“ zu sprechen sagte er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Saba. Seit der vorvergangenen Woche demonstrieren Regimekritiker, darunter Studenten, in den Städten Sanaa, Aden und Tais für einen Wechsel an der Spitze des jemenitischen Staates. Seit Mitte der Woche waren im Jemen mindestens fünf Menschen bei Demonstrationen ums Leben gekommen.

Jordaniens König Abdullah II. sagte seinem Volk nach wochenlangen Protesten ebenfalls schnelle Reformen zu. „Wenn ich Reform sage, dann meine ich eine schnelle und echte Reform“, sagte der Monarch nach einem Treffen mit Vertretern von Justiz, Parlament und Regierung. Abdullah hatte schon Anfang des Monats nachgegeben und die Regierung ausgetauscht.