Regierungskrise in London Brexit-Machtkampf: Die Ruhe vor dem nächsten Sturm?

London (dpa) - Nach einem turbulenten Tag mit mehreren Ministerrücktritten ist bei der Regierung in London am Dienstag etwas Ruhe eingekehrt. Doch mit Spannung wurde beobachtet, ob sich die Regierung von Premierministerin Theresa May tatsächlich fängt.

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Ihre so mühsam durchgesetzten Brexit-Vorschläge wurden bei der EU zurückhaltend aufgenommen. Unterhändler Michel Barnier bekräftigte bekannte EU-Positionen, die Mays Plänen zum Teil widersprechen.

Für die Europäische Union seien die vier Freiheiten des gemeinsamen Binnenmarkts - freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Freizügigkeit für Bürger - unteilbar, sagte Barnier in New York. May hatte hingegen eine Freihandelszone nur für Waren vorgeschlagen. Bei Dienstleistungen und Freizügigkeit will Großbritannien nach dem EU-Austritt 2019 jedoch stärker selbst bestimmen.

Die Vorschläge gelten in Großbritannien als Zugeständnis an die EU und hatten zu den Rücktritten der Brexit-Befürworter David Davis und Boris Johnson von ihren Ministerposten geführt. Deshalb wird mit Spannung erwartet, inwieweit sie für die EU akzeptabel sind. Barnier legte sich dazu noch nicht fest. Man werde sich in den nächsten Tagen zunächst das für Donnerstag erwartete Weißbuch anschauen, in dem May ihre Vorschläge ausführen will.

In London wurde mit Spannung erwartet, ob sich Ex-Außenminister Johnson noch einmal zu Wort meldet und May erneut herausfordert. Mit einer Misstrauensabstimmung gegen May wurde zunächst aber nicht mehr gerechnet. Demonstrativ postete die Premierministerin auf Twitter ein Gruppenfoto vom Kabinettstisch mit vielen lächelnden Gesichtern.

Unerwarteten Zuspruch bekam Johnson von der anderen Seite des Atlantiks. US-Präsident Donald Trump bezeichnete Johnson kurz vor seiner Abreise zum Nato-Gipfel in Brüssel als Freund. „Er hat mich sehr, sehr unterstützt und war sehr nett zu mir. Vielleicht werde ich mit ihm reden, wenn ich da drüben bin.“ Am Donnerstag wird Trump in Großbritannien erwartet.

Die Premierministerin zeigte sich bei einem Gottesdienst in der Westminster Abbey zum 100. Jahrestag der Gründung der britischen Luftwaffe Royal Air Force selbstbewusst. Sie trug einen Fascinator - einen modischen Kopfschmuck mit Federn, wie er gerne zum Pferderennen in Ascot getragen wird. Viele glauben, dass Mays politische Zukunft nun vor allem von der Reaktion der EU auf ihre jüngsten Brexit-Pläne abhängt.

Die Kräfteverhältnisse im britischen Kabinett jedenfalls scheinen sich zugunsten eines EU-freundlicheren Kurses verschoben zu haben. Der neue Außenminister Jeremy Hunt warb vor dem Brexit-Referendum 2016 noch für den Verbleib Großbritanniens in der EU.

Wird London seine Position weiter aufweichen? Genau das befürchteten die Brexit-Hardliner um Boris Johnson und David Davis. Die Befürworter eines harten Brexits hätten zwar wohl genug Stimmen, um ein Misstrauensvotum zu erzwingen - voraussichtlich aber nicht genug, es ohne Unterstützung auch zu gewinnen. Fraglich ist, ob sich das ändert, sollte May mit ihren Plänen in Brüssel auf Granit beißen.

Der Machtkampf ist noch nicht vorbei. Weitere Rücktritte wurden nicht ausgeschlossen. Umweltminister Michael Gove gilt dabei als Wackelkandidat.

Erfahrene Politiker warnten am Dienstag, May nicht infrage zu stellen. Sollten sie sich gegen Mays Pläne stemmen, riskierten die „Brexiteers“ ein Scheitern des Brexits, mahnte der konservative Ex-Außenminister William Hague. „In dieser Frage ein Romantiker zu sein, hat für das Land keinen praktischen Nutzen“, schrieb er im „Daily Telegraph“.

Der frühere Vorsitzende der Konservativen, Michael Howard, sagte der BBC, es wäre extrem dumm, ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin zu starten. „Ich denke und ich bin erfreut, dass sich gesunder Menschenverstand zu entwickeln scheint.“ Auch Ex-Verteidigungsminister Michael Fallon sagte, er glaube nicht an einen Misstrauensantrag. „Das ist das letzte, was wir gerade brauchen.“

Boris Johnson, wichtigster Brexit-Wortführer im Kabinett, war am Montag zurückgetreten, nur Stunden nach der Rücktrittsankündigung von Brexit-Minister David Davis. Zuvor hatte er bereits sein Rücktrittsschreiben veröffentlicht. „Der Brexit-Traum stirbt, erstickt von unnötigen Selbstzweifeln“, schreibt er darin. Wichtige Entscheidungen seien hinausgeschoben worden, einschließlich der Vorbereitungen für einen Brexit ohne Abkommen. So werde Großbritannien zu einer „Kolonie“ der EU.

Der neue Außenminister Hunt stellte sich sofort klar hinter May. „Es ist Zeit, unserer Premierministerin dabei den Rücken zu stärken, einen großartigen Brexit-Deal zu bekommen - jetzt oder nie...“, schrieb er auf Twitter.

Entzündet hatte sich der Streit an Mays Plan, Großbritannien bei Waren und Agrarerzeugnissen auch nach dem EU-Austritt eng an den europäischen Binnenmarkt zu binden. Die anderen drei Freiheiten des Binnenmarkts - Kapital, Arbeitskräfte und Dienstleistungen - sollen beschränkt werden. Damit wollen die Briten die ungehinderte Einreise von EU-Bürgern stoppen und im wichtigen Dienstleistungssektor eigene Wege gehen.