Das Vorbild Deutschland
Nachbarn hegen neuerdings große Bewunderung für das „modèle allemand“.
Paris. In Frankreich hat es Tradition, sich in punkto Arbeitsethos vom deutschen Nachbarn zu unterscheiden. Man arbeite, um zu leben und nicht umgekehrt. Eine Maxime, die viel aussagt über Lässigkeit und „savoir vivre“ auf der linken Rheinseite. Doch diesmal verhält es sich anders: Die Franzosen hegen neuerdings eine große Bewunderung für den fulminanten Aufschwung ihrer Nachbarn, ja, sie schwärmen vom „Modell Deutschland“.
Seit Monaten vergeht kaum ein Tag, an dem das „modèle allemand“ nicht gepriesen wird. Frankreichs auflagenstärkste Zeitung, „Le Parisien“, rückte die Schlagzeile „Lektionen aus Deutschland“ auf die Titelseite.
Allein der Zahlenvergleich verdeutlicht die Schere, die sich zwischen den beiden Ländern auftut. Musterknabe Deutschland führt mit einem Rekordwachstum von 3,6 Prozent (Frankreich 2010: 1,5%), hat weniger Arbeitslose (7,2%/9,7%), eine niedrigere Inflation (1,5%/1,9%), geringere Arbeitskosten (33,37 Euro je Stunde/37,41) und weniger Schulden (75,4% des Bruttoinlandsproduktes/81,5%). Kurz: Die Franzosen gleichen einem Rennfahrer, der frustriert hinter herfährt, während die Deutschen von der Pole-Position dem Sieg entgegenfahren.
Es war Nicolas Sarkozy, der sich als einer der ersten vom deutschen Aufschwung inspirieren ließ und laut „chapeau“ rief. Schon im vergangenen Sommer bekannte Frankreichs Staatschef freimütig: „Ich bewundere das deutsche Modell.“ Zur Erinnerung: Wenige Monate zuvor hatte seine resolute Finanzministerin Christine Lagarde die Deutschen noch heftig getadelt, weil ihre Nachbarn unter deren Exportüberschüssen ächzen müssten. Davon ist längst keine Rede mehr.
In der Tat läuft in Berlin vieles anders als in Paris. Flexiblere Arbeitszeiten, niedrigere Arbeitskosten, längere Lebensarbeitszeit und höhere Wettbewerbsfähigkeit sind die wichtigsten Bestandteile des deutschen Erfolges, hinzu kommen strenge Haushaltsdisziplin und rigoroser Schuldenabbau. Auch Premierminister François Fillon wirbt mit dem Hinweis auf Berlin immer häufiger dafür, entschlossen die Schuldenbremse zu treten.
Doch ein Patentrezept „Made in Germany“, das sich auf französische Verhältnisse übertragen ließe, gibt es nicht. Die Wissenschaftlerin Isabelle Bourgeois vom Zentrum für Deutschland-Studien weist auf die ausgeprägte Kompromisskultur und die Sozialpartnerschaft hin. In Deutschland, sagt sie dem „Parisien“, sei der Unternehmer „nicht Feind, sondern Partner“.
Jörn Bousselmi, Chef der deutsch-französischen Industrie- und Handelskammer in Paris, sieht kulturell, historisch und organisatorisch ebenfalls „himmelweite Unterschiede“. Im zentralistischen Frankreich dominierten große Unternehmen die Wirtschaft, während das föderale Deutschland von einem gewachsenen Mittelstand profitiere, der zudem höchst innovativ und exportorientiert sei. Dies habe einen grundlegenden Mentalitätsunterschied zur Folge. Bousselmi: „In Frankreich gilt es als erstrebenswert, auf die Eliteschulen zu kommen und Top-Manager zu werden, während in Deutschland Handwerk und Berufsausbildung eine sehr hohe Wertschätzung erfahren.“